Abraham Lincoln - Vampirjäger
die schädlichen Einflüsse des Sonnenlichts entwickelt. Dann ist die Welt der Lebenden endlich nicht länger außer Reichweite, und wir sind wieder frei, alles zu erleben, was die Dunkelheit uns im ersten Jahrhundert unserer Existenz vorenthielt. Wir verbringen viel Zeit in Bibliotheken, studieren die großen Klassiker, betrachten die erhabenen Meisterwerke der Kunst mit unseren eigenen Augen. Wir widmen uns der Musik, der Malerei und der Dichtung. Wir kehren noch einmal in unsere liebsten Städte zurück und erleben sie bei Tageslicht ganz neu. Langsam steigern sich unsere Vermögen ins Unermessliche, und unsere Macht wird immer größer. Im dritten Jahrhundert jedoch ist die Euphorie über die Unsterblichkeit beinahe gänzlich verflogen. Jedes nur erdenkliche Verlangen ist gestillt. Den Nervenkitzel, der damit einhergeht, ein Leben zu nehmen, haben wir zu oft schon erlebt. Und obwohl uns alle Annehmlichkeiten der Welt zur Verfügung stehen, finden wir darin keinen Trost. Im dritten Jahrhundert unserer Existenz, Abraham, begehen viele von uns Selbstmord, entweder indem sie sich zu Tode hungern, sich selbst einen Pfahl ins Herz treiben, eine Methode ersinnen, wie sie sich selbst den Kopf abschlagen können oder – in besonders verzweifelten Fällen – indem sie sich bei lebendigem Leibe selbst verbrennen. Nur die Allerstärksten unter uns, diejenigen, die eine außergewöhnliche Willenskraft an den Tag legen und die einen Sinn gefunden haben, der die Zeiten überdauert, werden vierhundert, fünfhundert Jahre oder älter.«
Dass jemand, der von dem unausweichlichen Los der Sterblichkeit befreit worden war, freiwillig dieses Schicksal für sich wählte, konnte ich nicht verstehen, und das sagte ich Henry auch.
»Ohne den Tod«, erwiderte er, »ist die Existenz bedeutungslos. Es ist wie eine Geschichte, die nie erzählt werden kann. Ein Lied, das niemals gesungen werden kann. Denn wie sollte es enden?«
S
Bald schon ging es Abe wieder so gut, dass er im Bett sitzen konnte, und Henry vertraute ihm so weit, dass er gänzlich auf die Fesseln verzichtete. Da es Abe nicht gelungen war, Antworten auf seine eher grundlegenden Fragen zum Vampirdasein zu erhalten, sammelte er eine unerschöpfliche Flut von Einzelheiten.
Über das Sonnenlicht:
»Wenn wir noch ganz jung sind, lässt das Sonnenlicht Blasen auf unserer Haut entstehen und macht uns krank, ähnlich wie ein Übermaß an Sonnenlicht einem Menschen schaden kann. Aber mit der Zeit werden wir resistent dagegen und können uns auch am Tage frei bewegen – solange wir uns von allzu grellem Licht fernhalten. Unsere Augen jedoch gewöhnen sich nie daran.«
Über Knoblauch:
»Ich fürchte, er lässt uns euch nur umso leichter aus der Ferne wittern.«
Über das Schlafen in Särgen:
»Ich kann natürlich nicht für andere sprechen, aber ich persönlich finde Betten doch recht bequem.«
Als Abe schließlich die Frage stellte, wie man zum Vampir wurde, zögerte Henry einen Moment lang.
»Ich werde dir erzählen, wie ich einer wurde.«
V
Folgendes vertraute Abe seinem Tagebuch am 30. August 1825 kurz nach seiner Rückkehr nach Little Pigeon Creek an:
Was nun folgt, ist die detaillierte Geschichte, so wie sie mir von Henry erzählt wurde. Ich werde nichts ausschmücken oder zurückhalten, noch habe ich irgendeine Einzelheit auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüft. Ich gebe seine Erzählung hier lediglich wieder, damit eine Aufzeichnung davon existiert. »Am 22. Juni 1587«, begann Henry mit seinen Ausführungen, »landeten drei Schiffe mit hundertsiebzehn englischen Seelen an Bord auf der nördlichen Roanoke Island im heutigen North Carolina.«
Unter diesem Gewimmel von Menschen befand sich ein dreiundzwanzigjähriger Lehrling des Schmiedehandwerks namens Henry O. Sturges, durchschnittlich groß und kräftig mit langen, dunklen Haaren. Er reiste in Begleitung seiner frisch angetrauten jungen Ehefrau, Edeva.
»Sie war nur einen Tag jünger und wenig kleiner als ich. Ihr Haar war flachsfarben und ihre Augen von einem außergewöhnlichen Braunton. Niemals in der Geschichte hat es ein anmutigeres, bezaubernderes Wesen gegeben.«
Sie hatten gerade eine grauenvolle Überfahrt hinter sich gebracht. Für die Jahreszeit ungewöhnlich schlechtes Wetter und äußerstes Pech hatte ihnen zu schaffen gemacht. Obwohl Tod und Krankheit keine außergewöhnlichen Ereignisse auf einer Atlantiküberquerung waren (die Schiffe im sechzehnten Jahrhundert waren in der Regel modrige,
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