Abraham Lincoln - Vampirjäger
das helle Tageslicht. Ich erblickte einen kleinen, bleichen Kerl auf der anderen Straßenseite, halb verborgen in einer Seitengasse, der seine Augen unzweifelhaft auf mich gerichtet hielt. Er war ganz in Schwarz gekleidet, passend zu seinem dichten Haar, dem Schnurrbart und den dunklen Brillengläsern. Zweifelsohne ein Vampir. Als er bemerkte, dass er enttarnt war, machte er auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Gasse. Ich musste der Sache auf den Grund gehen! Pochende Kopfschmerzen hin oder her! Ich überließ meinen schwankenden Freund sich selbst und heftete mich an die Fersen des Fremden. Ich folgte ihm die Conti Street entlang, dann über die Basin Street, wo der Teufel hinter den Friedhofsmauern 12 Zuflucht suchte. Ich war nur zehn Schritte hinter ihm gewesen, doch als ich das Tor erreichte, konnte ich ihn nirgends mehr entdecken. Er war verschwunden. Verschwunden in einem Labyrinth aus Gruften und Grabmälern. Ich fragte mich, ob er nicht einfach in eines der Gräber geschlüpft war; fragte mich, wie viele Vampire wohl …
12 Abe bezieht sich hier auf den heutigen St. Louis Friedhof Nummer 1.
»Und in welcher Absicht verfolgen Sie mich, Sir?«
Ich fuhr mit erhobenen Fäusten herum. Der clevere Teufel stand hinter mir – mit dem Rücken zur Friedhofsmauer. Er hatte seine dunkle Brille abgenommen und starrte mich aus müden Augen unter einer fliehenden Stirn an.
»›Verfolgen‹, mein Herr?«, erwiderte ich. »Warum fliehen Sie denn?«
»Nun ja, Sir, die Art und Weise, wie Sie Ihre Augen vor der Sonne abschirmten … der vertraute Blick, den Sie mit dem Herrn in der Kutsche tauschten … da dachte ich, Sie seien ein Vampir.«
Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte.
»Ach, Sie hielten mich für einen Vampir?«, sagte er. »Aber ich … «
Ein Lächeln machte sich auf seinen Lippen breit. Er schaute erst auf die dunkle Brille in seinen Händen, dann in das Gesicht des groß gewachsenen Fremden vor ihm. Dann fing er an zu lachen. »Ich denke, da sind wir beide einem Missverständnis aufgesessen.«
»Verzeihen Sie, mein Herr«, warf ich ein, »aber … wollen Sie damit sagen, dass Sie kein Vampir sind?«
»Leider nein«, antwortete er lachend. »So wahr ich hier stehe.«
Ich brachte meine Entschuldigung vor und hielt ihm meine Hand hin. »Abe Lincoln.«
Der kleine Mann nahm sie.
»Edgar Poe.«
III
Abraham Lincoln und Edgar Allen Poe waren im Abstand von nur wenigen Wochen geboren worden. Beide hatten früh, noch als Kinder, ihre Mütter verloren. Ansonsten hätte ihr Werdegang nicht unterschiedlicher verlaufen können.
Nach dem Tode seiner Mutter war Poe von dem wohlhabenden Kaufmann John Allen aufgenommen worden (der neben allerlei anderen Waren auch mit Sklaven handelte). Nachdem er abrupt aus dem vertrauten Umfeld seiner Heimatstadt Boston gerissen worden war, wurde er auf einer der renommiertesten Schulen Englands erzogen. Er hatte all die Wunder Europas gesehen, die Abe nur aus Büchern kannte. Etwa zu der Zeit, als Abe Rache geschworen und Jack Barts gepfählt hatte, war Edgar Allen Poe nach Amerika zurückgekehrt, wo er sich bei seinem Adoptivvater in Virginia niederließ und den Luxus genoss, der damit einherging, einer der reichsten Familien des Landes anzugehören. Poe hatte alles, was Abe sich nur erträumen konnte: Die vorzüglichste Bildung und das schönste Zuhause, mehr Bücher, als man zählen konnte, und einen Vater, dem es nicht an Tatkraft mangelte.
Aber er und Abe waren auf ganz ähnliche Weise unglückliche Wesen.
Schon als Studienanfänger an der Universität von Virginia versoff und verspielte Poe jeden Penny, den ihm sein Adoptivvater schickte, bis dieser ihm schließlich den Geldhahn zudrehte. Wütend und auf sich allein gestellt verließ er Virginia, ging nach Boston und trat unter dem Namen Edgar A. Perry der Army bei. Tagsüber lud er Artilleriegeschosse, und nachts schrieb er bei Kerzenschein zunehmend düstere Kurzgeschichten und Gedichte. Und während er noch in seiner Heimatstadt stationiert war, begegnete er zum ersten Mal einem Vampir.
Poe finanzierte die Veröffentlichung seiner ersten Sammlung von Kurzgeschichten mit eigenen Ersparnissen. Der Autor gab sich auf dem Buchdeckel lediglich als »ein Bostoner« zu erkennen (aus Angst, die anderen Soldaten könnten ihn dafür aufziehen). Von den fünfzig Exemplaren, die er drucken ließ, verkauften sich nur knapp zwanzig. Ungeachtet des geringen Absatzes erkannte ein Leser die Begabung hinter Poes
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