Abraham Lincoln - Vampirjäger
von ihm. Armstrong und ich gingen langsam auf den steinernen Tisch zu, die Waffen gezückt. Erst jetzt bemerkte ich die dunklen, gläsernen Rohre, die über unseren Köpfen verliefen, von den Leichen zu unserer Linken zu den Gefäßen rechts von uns. Und erst jetzt bemerkte ich auch das Blut, das in diese Gefäße lief und von einer Reihe von kleinen Gasflammen darunter warm gehalten wurde.
Erst jetzt bemerkte ich zudem, dass sich die Brustkörbe dieser vermeintlichen »Leichen« bei jedem schwachen Atemzug leicht hoben.
Erst jetzt erfasste ich das Ausmaß dieses Grauens, Abe. Denn ich begriff, dass dies alles lebendi g e Menschen waren. In Regalen verstaut wie die Bücher einer Bibliothek. Jeder von ihnen hatte kaum so viel Platz, dass sich sein Brustkorb zum Atmen heben konnte. Jeder von ihnen wurde durch Löcher in den Magen ernährt … und zur Ader gelassen. Zu schwach, um sich zu bewegen, zu wohlgenährt, um zu sterben. Jeder von ihnen gefangen gehalten von der Kreatur, deren Pfeifen wir plötzlich aus einem Nebenraum vernahmen. Er pfiff … wusch sich die Hände in einem Wasserbassin. Ohne Zweifel war er drauf und dran, die arme Seele abzuschlachten, deren Brustkorb sich noch unter dem weißen Laken hob und senkte.
Und plötzlich wurde uns klar, was wir zu tun hatten.
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McDowell betrat den Raum und trug eine Schürze und seine chirurgischen Instrumente auf einem Tablett. Er stellte es ab, pfiff dabei die ganze Zeit weiter vor sich hin und schlug das Laken zurück.
Das ist nicht der Mann, der zuvor hier lag.
Armstrong richtete sich blitzschnell auf und zielte mit der Armbrust auf das Herz des Bastards – sein Herz, Abe! Ich brauche dir wohl nicht zu erzählen, dass der Pfeil lediglich mit einem Klirren abprallte, denn der dicke, dämliche Ochse hatte den Brustpanzer vergessen!
Dieser Fehler kam uns teuer zu stehen, Abe, denn McDowell zeigte uns nun sein wahres Gesicht und schlug mit seinen Klauen zu. Jack hörte etwas auf den Steinboden fallen. Er blickte an sich hinab, dorthin, wo vor einem Augenblick noch seine Armbrust gewesen war. Weder sie noch seine rechte Hand befanden sich noch an Ort und Stelle. Die Farbe wich aus seinem Gesicht beim Anblick des Blutes, das aus seinem Handgelenk spritzte – und beim Anblick seiner abgetrennten Hand am Boden.
Jacks Schreie waren so laut, dass einige der in den Regalen Dahinsiechenden davon erwachten.
Ich hatte keine andere Wahl, als aus der Deckung zu kommen und meine Pistole auf den Kopf des Vampirs abzufeuern. Aber meinen zitternden Händen war nicht zu trauen. Die Kugel zischte an ihm vorbei und traf die ihm so kostbaren Glasbehälter! Stell Dir den Krach vor, Abe! Stell Dir die Menge an Blut vor, die sich über den Steinboden ergoss! Man hätte darin ertrinken können. Die ganze Konstruktion war so empfindlich, dass nun auch all die Rohre an der Decke auf einmal barsten und sich ein Schwall von Blut über uns ergoss.
»Nein!«, schrie McDowell. »Ihr habt es zerstört!«
Ich kann mich nicht daran erinnern, getroffen worden zu sein. Ich erinnere mich lediglich daran, dass ich mit solcher Wucht gegen die Regale mit den Körpern geschleudert wurde, dass ich mir das rechte Bein brach. Der Schmerz war heftiger als alles, was ich je zuvor erlebt hatte – heftiger sogar als die Prügel, die ich auf Farmington immer bekommen hatte. Mein Körper fühlte sich plötzlich ganz kalt an. Ich erinnere mich, dass McDowell (oder besser gesagt zwei von ihm, denn mein Blick verschwamm von dem heftigen Aufprall) auf mich zukam, während ich noch hilflos auf dem Boden lag, auf dem das Blut mindestens einen Zoll hoch stand. Ich erinnere mich an den skurrilen, amüsanten Gedanken, der mich in dem Moment überkam, dass eine Leichenhalle ein genauso guter Ort zum Sterben ist wie jeder andere … an die Wärme, die sich über uns ergoss … den Geschmack. Und ich erinnere mich, dass McDowell sich plötzlich ans Gesicht fasste.
Die Spitze eines Pfeils stak aus der Haut unterhalb seines Auges hervor! Und der Rest des Pfeils ragte aus seinem Hinterkopf heraus. Hinter ihm stand der dicke, dämliche Ochse und hielt die Armbrust in seiner zitternden verbleibenden Hand.
Eine unnatürliche Menge Blutes strömte ihm übers Gesicht (was einen erheblichen Teil zu der recht grausigen Szenerie beitrug), und der unter Paranoia leidende McDowell ergriff panisch die Flucht. 28
28 Dieser Zusammenstoß verschlimmerte McDowells Paranoia nur noch. Er verließ das Kemper-College und gründete
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