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Abschaffel

Titel: Abschaffel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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anderes zu wünschen, nacheinander drei Zigaretten. Schon nach der zweiten Zigarette wollte er beobachten, wie es aussah, wenn der Rauch langsam an der Nase vorbeiglitt, und er holte sich aus der Toilette einen Taschenspiegel und hielt ihn sich vor das Gesicht. Und er sah, daß der Rauch wie ein dichter, gut zusammenhängender Stoff an seinem Gesicht entlangzog und oben im Stirnhaar hängenblieb. Das Bild des in den Haaren gefangenen Rauchs beeindruckte ihn stark. Vorübergehend wurde sein mitgenommenes Gesicht lebendig; er blickte in den Spiegel, und es sah aus, als schwele auf seinem Kopf ein kleiner Brand. Hätte ihn doch nun jemand besucht! Abschaffel wäre an die Tür getreten und hätte, kurz vor dem Öffnen der Tür, seine Haare vollgeraucht und hätte seinen leise rauchenden Kopf dem Besucher entgegengehalten.
    Natürlich kam kein Mensch, und das war allein Abschaffels Schuld. Er hielt sich alle anderen Personen vom Leibe, weil er glaubte, mit niemand etwas anfangen zu können. Er konnte Menschen nicht leiden, nur weil sie sich Senftüpfelchen auf ihr Brot machten, eines nach dem anderen nach einem geometrischen Muster, bis das Brot voll von Senftüpfelchen war und Abschaffel den Anblick des Brotes nicht mehr hinnehmen konnte und er, Abschaffel, nicht mehr von dem Verlangen loskam, gegen den Hersteller des Senfbrotes kämpfen zu müssen. Aber wer aß denn Senftüpfelbrote? Abschaffel erinnerte sich kaum noch an die, die er nicht leiden mochte, es war alles schon so lange her. Einmal hatte er eine Phase, da bekämpfte er die gewöhnlichen Situationen, sobald er ihrer ansichtig wurde, oder, später, hatte er den Plan, die allgemeine Aufrichtigkeit lächerlich zu machen, oder er verfocht, gegen wen, wußte er nicht mehr, die Meinung, daß Initiative nur zu nicht belohnter Arbeit führe.
    Die schlimmste Zeit, die er nicht wirklich hinter sich hatte, die bloß irgendwann aufgehört hatte, ihn im Vordergrund seines Lebens zu beschäftigen, war das halbe Jahr, das er fast ausschließlich mit Freundinnen zugebracht hatte. Monatelang liebte er drei Mädchen, nein, er liebte sie nicht, sie waren nur um ihn herum. Er hatte sie angestarrt und sich gewundert, wie sie es bei ihm aushielten. Wenn er in Schwierigkeiten kam, die Frauen voreinander geheimzuhalten, log er ihnen etwas vor, und wenn er einmal zuviel gelogen hatte und sich in seinen Lügen nicht mehr auskannte, dann spielte er ihnen Unzufriedenheit und Zerwürfnisse mit sich selbst vor, bis er wieder allein gelassen wurde. Er hatte nur ausprobieren wollen, wie sein Leben wäre, wenn er einmal das Gefühl nicht haben mußte, er komme immer und ewig zu kurz und alles, was für ihn da sei, sei zu wenig. Mit diesem Gefühl erwachte er, und mit diesem Gefühl ging er schlafen. Und er hatte sich einige Zeit getäuscht, indem er glaubte, wenn nur einige Frauen mit ihm beschäftigt seien, könnte er dieses Gefühl verlieren. Die drei Mädchen waren sich in nichts ähnlich. Wären sie je einander begegnet, wären sie voreinander zurückgewichen. Sie hätten auch nicht begreifen können, warum und wieso es in jeder von ihnen eine Seite gab, die mit ihm, Abschaffel, etwas zu tun haben konnte. Es ging nur, weil Abschaffel perfekt und umsichtig log. Er wußte nicht genau, woran es lag, daß er oft lügen mußte, und er wußte nicht, was an der Wahrheit er fürchtete. Er hatte das Gefühl, daß für ihn, wenn er ganz und gar aufrichtig wäre, nichts mehr übrigbleibe. Das Lügen hatte er in seiner Familie gelernt. Zwischen der Mutter, dem Vater, ihm und seinen Geschwistern gab es ganze Lügengespinste, eigenartige Gebilde aus Vertuschung und Heimlichkeit, die sich wochenlang hielten und einzelne Familienangehörige unter Druck setzten. Am schlimmsten war, wenn zwei oder noch mehr Lügen lange Zeit nebeneinander herlebten und sich nicht berühren durften. An einigen Stellen des Familienlebens kreuzten sich die Lügen aber doch, und man wünschte sich an den Kreuzstellen ordnende Ampeln, die die Lügen gut aneinander vorbeiließen.
    Als Kind hatte Abschaffel überhaupt nur durch Lügen weiterkommen können. Es war nichts zu kriegen, noch nicht einmal bloße Ruhe, wenn er nicht etwas vorzulügen in der Lage war. Wenn er als Kind für einige Stunden von zu Hause weggewesen war, zu Besuch bei einer Tante oder, mit Geld von der Mutter, für zwei Stunden auf dem Rummelplatz, und dann wieder nach Hause kam, entstand für ihn das Problem, was er der Mutter sagte, wenn sie ihn fragte,

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