Abscheu
uralten Branche zu tun haben wollte, letztendlich ohne mein Wissen eine von denen geheiratet habe?
Eine enorm dicke Schwarze zwinkert mir zu. Schnell wende ich den Blick ab. Im Zimmer neben ihr, das von ihrem nur durch eine dünne Wand getrennt ist, sitzt ein mageres hellhäutiges Mädchen mit hochgesteckten Haaren, das ein billiges weißes Unterwäscheensemble trägt. Als sie meinen Blick erhascht, schaut sie mir in die Augen und drückt ihre Brüste nach oben.
Mir dreht sich der Magen um. Ich atme tief ein und aus, einmal, zweimal. Aber es nützt nichts, ich kann den Brechreiz nicht unterdrücken. Ich schlage die Augen nieder und wage es nicht mehr, aufzusehen. Ich habe Angst vor Blickkontakt, Angst vor den Bildern, die sich mir unauslöschlich einprägen, Angst, Dinge zu sehen, die ich nicht sehen will, aber nie wieder vergessen werde.
Ich will hier nicht sein.
In einer Gasse, auf die keine Fenster münden, lehne ich mich gegen eine feuchte Backsteinmauer, und endlich, Stunden nachdem ich eine ganze Flasche Whiskey getrunken habe, schaffe ich es, meinen Magen zu entleeren. Der Inhalt klatscht auf die Pflastersteine und auf meine gestärkte Hose.
Nachdem ich den letzten sauren Schwall herausgepresst habe, gehe ich in Richtung einer breiten Straße, wo ich Autos und Fahrradfahrer sehe und die Straßenbeleuchtung nicht mehr rot, sondern grell weiß ist.
Ich erkenne, dass dieses Viertel einen Ausgang hat. Ich kann einfach weggehen und ein Taxi heranwinken, das mich irgendwo anders hinbringt, in die Stadt oder davon weg, über die Stadtgrenzen hinaus in die Polder, wo absolute Dunkelheit und Stille herrschen.
Doch einen Ausweg aus meiner Situation erkenne ich nicht. Nirgendwo.
Ich habe dieses Geld nicht. Ich kann dieses ordinäre Schwein nicht bezahlen, weder heute noch in zwei Wochen.
Was soll ich tun? Claire rauswerfen, der ersten Eingebung folgen, die mir heute Nachmittag in den Sinn kam? Nein, zwecklos. Das würde alles nur noch schlimmer machen. Wieder sehe ich die Gesichter vor mir, die der Bankangestellten und der Gemeindemitarbeiter. Dennis van Gelder kommt mich bestimmt nicht mehr besuchen, wenn er davon erfährt. Ich bilde mir ein, sein Hohngelächter jetzt schon zu hören. Und dann Lely, und dazu die strenggläubigen Nachbarn, die mich nur akzeptieren, weil sie mich für erfolgreich halten. Und all die Dutzenden, Hunderten anderen, die mich nach dem Tod meines Vaters im Laufe der Zeit schätzen lernten und mich auf einer gewissen Ebene mittlerweile vielleicht sogar respektieren: Sie würden mir noch im Vorbeigehen den Rücken zudrehen. Sie würden so tun, als kennen sie mich nicht und mir im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn die kalte Schulter zeigen. Aber reden würden sie über mich. Jeden Tag aufs Neue. Ich höre bereits ihre Stimmen im Kopf, höre sie wispern, flüstern, feixen …
Harald van Santfoort lässt sich scheiden … Finanziell am Boden, wusstest du das … Nicht mal das Studium abgeschlossen … Ein Versager, du hast recht, ein Stümper, das war er doch schon von Anfang an … Konnte nicht mal eine anständige Frau finden. Eine Hure, hast du das gehört? Bestimmt ist er vorher zu ihr hingegangen, wie soll er sie sonst kennengelernt haben? Wie traurig für die armen Kinder. Aus denen kann natürlich auch nichts mehr werden. Die Töchter eines Versagers … Ein Versager und eine Hure.
Ravelin, alles, was mein Vater und mein Großvater aufgebaut haben, wäre mit einem Schlag zerstört. Besudelt mit Schande. Meine Töchter hätten keine Chance mehr auf ein gutes, respektables Leben. Unsere ganze Existenz ist mit der Festungsstadt und der Insel verbunden, und doch könnte ich dort nicht mehr länger wohnen und arbeiten.
Geld, um anderswo ein neues Büro zu eröffnen, habe ich aber nicht. Ich habe nicht mal Erspartes, um eine gewisse Zeit zu überbrücken, keine Verwandten, die mir zeitweilig aushelfen könnten. Nichts. Welche Möglichkeiten bleiben mir noch? Bei einem anderen Makler anzufangen? Tagein, tagaus Fertighäuser zu begutachten?
Nein. Claire wegzuschicken kommt nicht infrage. Und auch ich kann nicht weg. Ich bin fast vierzig, ich kann nicht noch einmal von vorn anfangen. Ich will es auch nicht. Ich will das bewahren, was ich habe. Ravelin, meinen restaurierten Bauernhof, meine Töchter, mein ganzes Leben!
Das will ich nicht verlieren.
Verdammt, Claire! Verdammt noch mal!
Claire, mein Goldschatz. Claire mit dem Taittinger und dem Blauflossenthunfisch, die
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