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Abschied aus deinem Schatten

Abschied aus deinem Schatten

Titel: Abschied aus deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Vale Allen
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sich um eine ganz spontane Fahrt nach Hause, um eine unangekündigten Wochenendheimreise.
    Energiegeladen, doch auch angesichts der frostigen Luft und des in der grellen Sonne bunt leuchtenden Herbstlaubs von einem merkwürdigen Heimweh ergriffen, war sie an einem Samstagmorgen früh aufgebrochen. Gegen Mittag daheim angekommen, trat sie aus alter Gewohnheit durch die Hintertür ein – und sah genau in dem Moment, wie Claudia ihre sich windende Mutter gegen den Kühlschrank drückte und ihr mehrmals heftig quer übers Gesicht schlug.
    Bei Rowenas Entsetzensschrei erstarrten Mutter und Schwester gleichsam zu Salzsäulen und glichen dabei den Statuen aus dem Spiel, das Rowena einst mit Cary gespielt hatte, als beide noch Kinder waren.
    Schlagartig wandelte sich Claudias gerade noch hässlich verzerrte Miene in einen regelrecht entzückten Gesichtsausdruck. „Ro!” rief sie. „Mensch, toll! Bleibst du übers Wochenende?”
    „Was ist denn hier los?” Wie stets war Rowena völlig fassungslos über die geradezu Atem beraubende Geschwindigkeit, in der Claudias Stimmung umschlug, und sie spürte, wie ihr vor Angst das Herz bis zum Halse hämmerte, weil in ihr allmählich die Erkenntnis reifte, dass ihr bis zu einem gewissen Grad vor ihrer Schwester grauste, ja, dass dies immer schon so gewesen war. Etwas an Claudia entzog sich jedem Verständnis, etwas Animalisches, das bislang von den Konventionen normalen menschlichen Verhaltens unberührt geblieben war. Bereits in dem kleinen Mädchen hatte es sich präsentiert, als Claudia mit rücksichtsloser Unbekümmertheit ein gesamtes Blumenbeet zertreten hatte, und auch in der Hopserei auf der Treppe, wenn sie pausenlos und stets aufs Neue die Stufen hinauf und hinunter turnte, unermüdlich und völlig versunken in dieser hirnlosen Übung. Je älter Claudia wurde, desto mehr äußerte sich dieser erschreckende Wesenszug in ihrer völligen Unempfindlichkeit gegenüber den Gefühlen der restlichen Familienmitglieder. Wiederholt stellte sie die Zimmer ihrer Geschwister auf den Kopf und machte sich mit allem davon, wonach ihr gerade der Sinn stand. Ihre Absonderlichkeit hatte sich weiterhin in dem Drang geäußert, ihrer Schwester nach und nach die Freundinnen und Freunde abspenstig zu machen sowie letztlich in der tiefen Depression, als sie auf die Privatschule geschickt wurde. „Was geht hier vor?” fragte Rowena nochmals.
    „Ach, nichts!” gab Claudia fröhlich zurück. „Hört mal zu! Lasst uns doch alle drei heute Abend zum Dinner in den Club fahren! Ich hab mir ein todschickes neues Kleid gekauft. Na, wenn du das erst siehst!”
    „Was sollte das da eben? Warum hast du sie geschlagen?” Es war Rowena keineswegs entgangen, dass sich auch in ihrer Mutter ein Wandel abgespielt hatte. Zuerst furchtsam geduckt, demonstrierte Jeanne nunmehr jenes charakteristische, herablassende Interesse, das sie immer an den Tag legte, wenn es den Anschein hatte, als gingen ihre Töchter einmal einigermaßen zivilisiert miteinander um. Dann machte sie stets ein Gesicht, als wolle sie sagen: Nun spielt mal schön, Mädchen. Wieso Jeanne sich allen Ernstes einbildete, ihre Töchter könnten oder würden miteinander auskommen, das war Rowena schon seit Jahren ein Rätsel gewesen. Artig spielen – so ein Ausdruck zählte nicht zu Claudias Wortschatz und erst recht nicht zu ihren Regeln. Für Rowena war er gleichbedeutend mit „Halt den Mund und versuch, hübsch auszusehen” – ein Gebot, bei dem sie in Rage geriet.
    Von einem Moment auf den anderen schlug Claudias Stimmung ins Gegenteil um. „Was hast du überhaupt hier zu suchen?” giftete sie in aggressiver Pose, die Augen zu Schlitzen verengt, das Kinn gereckt, die Hände in die Hüften gestemmt. „Du müsstest doch eigentlich am College sein! Was schleichst du hier herum und spionierst uns nach?”
    „Mach dich nicht lächerlich!” blaffte Rowena zurück, während sie näher zu ihrer Mutter trat. „Hier schleicht niemand herum! Was war das da vorhin, Mutter? Wieso lässt du dich von ihr schlagen?”
    „Nur zu, redet ruhig, ihr zwei! Tut ruhig so, als wäre ich gar nicht da!”
    „Claudia, nun gib mal einen Augenblick Ruhe!” befahl Rowena in jenem sachlichen Ton, der bei ihrer Schwester am ehesten Wirkung zeigte. „Heraus mit der Sprache, Mutter! Was war hier gerade los?”
    „Herrgott noch mal!” zeterte Claudia los. „Wie mich das ankotzt, wenn du dich so aufspielst! Kommst hier reingeschneit und meinst, alles hört

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