Abschied aus deinem Schatten
gleich in die Federn kuscheln konnte.
„Du siehst so klein und niedlich aus – man könnte glatt meinen, ich müsste dir eine Geschichte vorlesen!”
„Klein schon, aber niedlich bin ich nie gewesen.”
„Doch, du warst immer schon niedlich! Hör endlich auf, dich als hässlich zu sehen! Darf ich mich ein wenig neben dir lang machen?”
Statt zu antworten, klopfte sie mit der flachen Hand neben sich aufs Laken, worauf Mark seine Halbschuhe abstreifte und sich, den Ellbogen angewinkelt und den Kopf auf die Hand gestützt, der Länge nach ausstreckte.
„Ich erzähl dir trotzdem eine Gutenachtgeschichte. Also, Licht aus, mach’s dir bequem.”
Sie gehorchte und rollte sich, auf der Seite liegend, zusammen, die Hände unter der Wange vergraben.
„Es waren einmal zwei Königstöchter”, begann er, „die wohnten mit ihrer Mutter, der Königin, in einer Burg. Da es ihnen an nichts fehlte, hätten sie wohl zufrieden und glücklich leben können. Doch ach, die ältere Prinzessin war betrübt, denn ihr Vater, der König, war fortgegangen, und nun glaubte sie tief im Herzen, sie sei schuld daran, dass er sie verlassen hatte. Die jüngere Prinzessin war unglücklich, weil sie eigentlich nur dann zufrieden war, wenn sie von jedermann bewundert wurde und alle ihr immer wieder versicherten, wie wunderschön sie sei. Doch obwohl sie wirklich sehr hübsch war, war sie doch ein garstiges Mädchen, dem die Höflinge nur selten Komplimente machten. Man schenkte ihr kaum Beachtung und ging ihr aus dem Weg. Die ältere Prinzessin hingegen war klug und schön und voller Güte, doch da wurde ihre Mutter, die Königin, zornig, denn sie war nicht mehr jung und schön; und klug oder liebenswürdig, das war sie nie gewesen. Ja, neben ihrer älteren Tochter nahm sich die Königinmutter gar wahrlich schlecht aus. Um also die ältere Prinzessin zu strafen, sagte die Königin dem Kind bei jeder sich bietenden Gelegenheit: ‚Du bist zwar klug, doch hässlich; niemand mag dich, und niemals wird ein Königssohn kommen und dich als Herzallerliebste heimführen.‘ Auch die jüngere Prinzessin, eifersüchtig auf die ältere Schwester, war böse zu ihr und nahm ihr alle Freundinnen weg …”
„Bitte, Mark, nicht …” Eine Träne rollte über ihre Wange.
„Okay, ich hör ja schon auf! Komm her!” Sanft zog er sie an sich, sodass ihr Kopf an seiner Brust ruhte. „Nun schließ die Augen. Ich bleibe, bis du eingeschlafen bist.”
„Ach, du bist so lieb”, flüsterte sie.
„Wünscht du dir manchmal, ich wäre hetero und könnte mit dir schlafen?”
„Nein. Du denn?”
„Mitunter schon. Aber ich glaube, es würde nur alles kaputtmachen. Oft kommt das nämlich beim Sex heraus.”
„Mit uns beiden ist alles anders. Du bist für mich der Familienersatz. Ich mag dich so, wie du bist.”
„Mir geht’s ebenso. Jetzt mal ehrlich. Du hattest dich in den Doc verliebt, stimmt’s?”
„Die Antwort auf die Frage weißt du doch sowieso schon.”
„Na ja, stimmt. So, nun aber Augen zu. Jetzt wird geschlafen! Morgen früh sieht alles schon ganz anders aus.”
„Ach, das wäre schön!” Die Arme um seine Taille gelegt, schloss Rowena die Augen, lauschte seinem ruhigen, regelmäßigen Herzschlag und atmete seinen angenehmen Duft ein, bis sie ganz sacht einschlummerte.
Sie fühlte sich tatsächlich ausgeruhter und weniger zerschlagen, als sie am folgenden Morgen in die Garage ging, um zur Arbeit zu fahren. Während sie den Wagen auf die Straße lenkte, gestand sie sich ein, dass sie Ian in Wirklichkeit wohl doch nicht den Mord an Claudia zutraute. Allerdings fiel ihr außer ihm niemand ein, der das Video mit Claudia und Reid gedreht haben könnte. Damit blieb ihr nichts weiter als die Überzeugung, dass Ian mehr wusste, als er bislang hatte zugeben wollen, sowie die Tatsache, dass sie sich auch weiterhin von Reid hintergangen fühlte. Eins blieb ihr wohl nicht erspart, auch wenn es ihr schwer fallen würde: Sie musste Ian rundheraus auffordern, ihr mitzuteilen, was er wusste. Was bezüglich Tony Reid geschehen sollte, konnte sie beim besten Willen nicht sagen.
Sie befuhr gerade die Post Road in Fahrtrichtung Route 124, als schon wieder ein flüchtiger Moment aus der Vergangenheit über ihren inneren Monitor flackerte.
Durch schiere Willensanstrengung gelang es ihr diesmal, das Bildfragment festzuhalten und sogar zeitlich einzuordnen, nämlich ins erste Studienjahr am College. Selbst die Umstände fielen ihr ein. Es handelte
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