Abschied aus deinem Schatten
uns, Mummy und ich! Und überhaupt – was weißt denn du schon? Du kapierst doch sowieso nichts, und wenn man dich mit der Nase drauf stößt!”
„Dies geht mich sehr wohl etwas an!” fauchte Rowena zurück, während die Stimme in ihrem Kopf rief:
Es stimmt! Du verschließt die Augen vor dem, was sich hier abspielt!
Drohend machte sie einen Schritt auf ihre Schwester zu und war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. „Du hast kein Recht, sie zu schlagen!” wiederholte sie mit Nachdruck.
Claudia stellte sich hinter Jeannes Stuhl, als ginge sie dahinter in Deckung. „Du hast mir überhaupt nichts zu sagen! Ich lass mich von niemandem herumkommandieren!”
Auch das stimmt. Hier herrscht das Chaos. Die zwei brauchen einander, denn keine kann ohne die andere überleben.
Die Hand auf Jeannes Schulter gelegt, fuhr Claudia fort: „Dauernd drängst du dich zwischen Mummy und mich, weil du nämlich eifersüchtig bist! Immer bist du neidisch auf mich gewesen! Und das ist ein Trauerspiel, Ro! Jawohl, ein Trauerkloß, das bist du! Öde und hässlich und jämmerlich!”
„Warum, in aller Welt, sollte ich denn wohl neidisch auf dich sein?” Rowena war überrascht.
„Weil ich mehr Sexappeal habe und attraktiver bin als du! Und weil ich an jedem Finger zehn Kerle haben kann, während sie dich nicht mal mit der Kneifzange anfassen!”
Obwohl Rowena unwillkürlich auflachte, war sie innerlich zutiefst erschüttert. Sie merkte, dass sie es mit einer Form von Irrsinn zu tun hatte, der sowohl die Schwester als auch die Mutter erfasst hatte. Es handelte sich dabei nicht um jene tobsüchtige Raserei, aufgrund derer man in der Gummizelle ruhig gestellt wurde, sondern eher um eine heimtückisch subtile, komplexe Art von kollektivem Wahn, bei dem für beide Erkrankte die Gegenwart der jeweils anderen unbedingt erforderlich war, damit sie sich fortgesetzt peinigen und attackieren, sich gleichzeitig aber auch Gesellschaft leisten konnten. In gewisser Hinsicht ergänzten die zwei sich ideal, denn auf lange Sicht hätte niemand sonst eine der beiden ertragen können oder wollen. In mancherlei Hinsicht waren sie ein Herz und eine Seele, dann wiederum waren sie einander spinnefeind. Nach Rowenas Einschätzung glichen sie blinden, aneinander gefesselten Primaten, die sich mit instinktiver Animosität begegneten und sich ständig stritten, weil es ihnen Gewohnheit und Bedürfnis zugleich war.
„Bitte, Kinder”, flehte Jeanne resigniert, „zankt euch doch nicht!”
Zanken?
Rowena schaute ihre Mutter völlig verblüfft an, als habe sie eine Fremde vor sich. Was sie sah, war eine Frau mit langen, elegant geformten Beinen – wie immer in dunkler Strumpfhose und hohen Absätzen, damit sie gebührend bewundert werden konnten –, einem verfetteten Körper und spindeldürren Armen, was sich selbst mit dem teuren, maßgeschneiderten schwarzen Kostüm nicht kaschieren ließ, und einem aufgedunsenen, wenn auch nach wie vor schönen Gesicht. Das Porträt einer dem Alkohol verfallenen Mutter, in unterschiedlichen Graustufen gemalt.
Weil sie trinkt! Weil sie seit Jahren schon viel zu viel trinkt!
In den wenigen Augenblicken, die Rowena brauchte, um ihre Mutter zu betrachten und zu dieser Erkenntnis zu gelangen, hatte sich Claudias Laune schon wieder geändert. „Na, ich muss jetzt los!” verkündete sie aufgeräumt. „Bin zum Lunch verabredet. Ich nehme dein Auto, Mummy.” Sie beugte sich vor und legte kurz ihre Wange an die ihrer Mutter. „Bleibst du oder haust du wieder ab?” fragte sie Rowena.
„Ich fahre zurück”, erwiderte Rowena entgeistert.
„Na gut. Dann bis bald.” Sie verabschiedete sich von der Schwester mit der gleichen kurzen Wangenberührung und wirbelte in einer Wolke teuren Parfüms über den Flur Richtung Ausgang. „Tschü-üss!” hörte man sie noch säuseln, gefolgt vom Knallen der Haustür.
Sprachlos ließ Rowena sich auf einen Stuhl nieder. Erneut fragte sie sich, ob die zwei verrückt geworden waren oder sie selbst. Benahmen sich andere Familien etwa ebenso? Konnte es sein, dass Jeanne und Claudia sich ganz normal verhielten und dass nur ihr die Situation völlig verdreht vorkam? Schließlich hatte sie sich ja schon lange anders als andere gefühlt, als Außenseiterin, die sich sogar von denen absonderte, die ihr am nächsten standen. Doch nein, sie war überzeugt, dass sie die Situation objektiv einschätzte: Gegnerinnen und Komplizinnen zugleich, bekriegten sich ihre Mutter und ihre Schwester
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