Abschied aus deinem Schatten
aufs Heftigste, um sich schlagartig im Angesicht einer Drohung von außen sofort zu verbünden. Und sie, Rowena, stellte eine solche Bedrohung dar. Ohne um Erlaubnis zu bitten, zog sie eine Zigarette aus Jeannes Schachtel.
„Sie meint das nicht so”, erklärte ihre Mutter, deren Hände deutlich zitterten, als sie sich ebenfalls eine Zigarette anzündete.
„Vielleicht, vielleicht auch nicht”, gab Rowena zurück. Sie empfand die Atmosphäre, die hier im Haus herrschte, als derart bedrückend, dass ihr das Atmen schwer fiel. Ihr war, als hinge ein Gestank in der Luft, der Geruch von Blut, das in zu vielen Schlachten vergossen worden war, der Ruch von Geheimnissen und von jahrelang unausgesprochen gebliebenen Dingen. Diese Mixtur schwebte im Raum wie klebrige Fliegenfänger, die in spiralförmigen Papierstreifen von der Decke baumeln.
Mit einer beiläufigen Handbewegung versuchte Jeanne, alles beiseite zu wischen. „Claudia ist eben launenhaft. Das weißt du doch, Liebes. Sie hat so schreckliche Stimmungsschwankungen, die Ärmste!” Mit jenem weichen, gebrochenen Ausdruck in ihren Augen, der an eine eingesperrte, leidende Kreatur erinnerte, blickte sie Rowena flehentlich an – eine stumme Bitte, das Spiel mitzuspielen und die Täuschung aufrechtzuerhalten. Und da Rowena im Innersten ihre Mutter trotz allem liebte, hatte sie stillschweigend eingewilligt und die Wahrheit verdrängt.
Mehr als zwanzig Jahre hatte sie ihr Versprechen gehalten und die Alkoholkrankheit ihrer Mutter einfach nicht zur Kenntnis genommen. Dabei war sie sogar so weit gegangen, mit keinem Wort zu erwähnen – noch gar es sich selbst insgeheim einzugestehen –, dass der Alkohol den Leberkrebs verursacht hatte, an dem Jeanne schließlich im Alter von fünfundfünfzig Jahren starb. Doch nun, da all das Verdrängte wieder auflebte, wähnte Rowena sich dicht vor der Aufklärung von Claudias …
Rowena wurde gewaltsam aus ihren Gedanken gerissen. Schlagartig richtete sie den Blick wieder auf die Straße und erkannte, dass ein Fahrer vor ihr das Stoppzeichen, das etwa zwanzig Meter voraus an einer Kreuzung stand, missachtete. Jesus! Wo bin ich? Auf der Route 124? Sie konnte sich überhaupt nicht erinnern, abgebogen zu sein. Großer Gott! Wie im Zeitlupentempo schwenkte der Wagen vor ihr gemächlich nach links und entging dabei um Haaresbreite dem Zusammenstoß mit einem aus der Gegenrichtung herannahenden Jaguar, der ausweichen musste und direkt auf Rowena zuschoss. Nein! Ihr war, als rase die Zeit davon und bliebe gleichzeitig stehen, sodass sie den panischen Blick der Jaguar-Fahrerin sehen konnte, die mit ihrem Sportwagen um Zentimeter an dem Benz vorbeischrammte, und ganz kurz nur bekam Rowena mit, dass am Steuer des langsam fahrenden alten Cadillac ein älterer Herr saß. Oh Gott! Sie spürte, wie Todesangst sie erfasste, kurbelte das Lenkrad des Mercedes wie wahnsinnig nach rechts, um nicht auf das Heck des Cadillac aufzuprallen, und trat gleichzeitig mit aller Macht das Bremspedal durch.
Aus, aus! Du wirst deinen Vater niemals wiedersehen, wirst Claudias Tod niemals ergründen! Mark, verzeih mir!
Der mächtige Stamm einer uralten Rotbuche schien förmlich auf sie zuzurasen, und als Rowena das Steuer wieder nach links riss, um dem Zusammenstoß auszuweichen, ging ihr auf, dass sie vergessen hatte, den Sicherheitsgurt anzulegen. Mit einem gewaltigen, ohrenbetäubenden Knall krachte der Mercedes mit der Beifahrerseite gegen den Baum. Rowena wurde seitwärts über den Vordersitz geschleudert und prallte mit dem Kopf voran gegen die Beifahrertür. Sie hatte das Gefühl, als werde ihr der Schädel zwischen die Schulterblätter getrieben. Sie hörte das Splittern von Glas und das Knirschen von Metall auf Metall, roch den süßlichen Gestank von Benzin, als das Auto federnd auf die Räder zurückkippte und dann schwankend liegen blieb. Rowena lag still, ganz still. Sie bezweifelte, dass sie sich noch bewegen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte. So ist das also, wenn es aus ist, wenn man stirbt! Es ist gar nicht so schlimm. Es tut nicht weh. Nicht weh.
Jemand sprach mit ihr, und als sie die Augen aufschlug, erblickte sie eine Frau, die sich mit ängstlichem Blick durch die offene Fahrertür ins Wageninnere lehnte. „Sind Sie bei Bewusstsein?” fragte die Fremde sanft und leise.
„Ich weiß nicht recht …”
Du bist nicht tot!
Schmerzen, so schien es Rowena, hatte sie nicht.
„Wie heißen Sie?”
„Rowena.”
Die Frau kniete sich
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