Abschied aus deinem Schatten
herausgetreten, war sie der Gewalt des Sturmes schutzlos ausgesetzt. Eisige, windgepeitschte Schneeflocken bissen ihr scharf ins Gesicht. Mit gesenktem Kopf stapfte sie vorwärts. Nur nach Hause, nur etwas anziehen und aufwärmen! Als sie am Clubhaus vorbeikam, schrillte das Münztelefon los, das dort stand. Sie hielt an und nahm den Hörer ab.
Am anderen Ende war Cary. „Ro, du musst sofort nach Hause kommen! Ich weiß, dass du sauer auf mich bist, weil ich abgehauen bin. Aber bitte, komm nach Hause!”
„Wo bist du denn eigentlich hin, Cary?”
„Das ist jetzt egal. Komm nach Hause!”
„Versuche ich ja, aber es stürmt so schrecklich! Ich kann kaum sehen, wohin ich gehe!”
„Du wirst den Weg schon finden. Du musst es nur versuchen, das allein ist wichtig. Okay?”
„Na gut! Bist du auch da, wenn ich komme?”
„Darüber brauchst du jetzt nicht nachzudenken.”
Er legte auf. Zögernd hängte sie ebenfalls ein und machte sich wieder auf den Weg. Ihre nackten Beine waren wie taub, ihr Gesicht hingegen glühte. Zum Parkplatz musste sie eine zwar nicht allzu steile, aber glitschige Böschung bewältigen, auf der sie dauernd abrutschte und zu stürzen drohte. Doch sie klammerte sich an stacheligen Sträuchern fest, bis ihre Füße Halt fanden und sie weiter aufwärts klettern konnte.
Endlich kam sie oben an. Mutterseelenallein stand das Auto auf der Parkfläche. Sie zog den Schlüsselbund aus der Manteltasche und hielt ihn krampfhaft fest, während sie sich auf den Mercedes zu bewegte. Inständig hoffend, das Türschloss möge nicht vereist sein, führte sie den Schlüssel ein und drehte ihn um. Langsam hob sich der Verriegelungsknopf; sie riss die Tür auf und stieg in den Wagen. Der Motor sprang unverzüglich an, und während Rowena ihn ungeduldig im Leerlauf warm laufen ließ, schloss sie die Augen. Wie schön, einmal Carys Stimme wieder gehört zu haben!
Sie und Mark waren beim alten Bootshaus, das sich, bevor es unter mysteriösen Umständen in Flammen aufging und abbrannte, einst dort befunden hatte, wo das Grundstück ihrer Großmutter ans Meer grenzte. Beide saßen am Rand des verwitterten und zerborstenen kleinen Bootsanlegers, ließen die Beine baumeln und schauten den Möwen zu, die in Ufernähe ihre Sturzflüge übten. Segelbote zogen draußen auf dem Sund dahin.
„Wenn du den Sicherheitsgurt angelegt hättest”, spekulierte Mark gerade, „dann wärst du möglicherweise ohne einen Kratzer davongekommen. Und das macht mir am meisten Kopfschmerzen, denn dass du dich nicht anschnallst, das kenne ich eigentlich gar nicht an dir.”
„Hör mal, Mark, ich muss dir was Wichtiges mitteilen.”
Er redete ungerührt weiter. „Seit der Sache mit Claudia geht bei dir alles drunter und drüber. Mir wäre es nur zu recht, du ließest alles auf sich beruhen, und dann Schwamm drüber!”
„Aber ich habe ihn jetzt herausgefunden, den wichtigen Teil! Nicht mehr lange, und das Bild ist komplett. Es sind nur noch wenige Fragen offen.”
„Werde du mal erst möglichst schnell gesund, damit wir dich hier schleunigst rausbekommen!”
„Mach ich, versprochen.” Sie schaute aufs Wasser hinaus. „Los, lass uns schwimmen gehen!”
Ohne seine Antwort abzuwarten, sprang sie auf, die sonnendurchtränkten Planken warm unter den nackten Fußsohlen, die Sonne stechend heiß auf Kopf und Schultern, und hechtete mit einem Kopfsprung ins Nass. Das Wasser war derart kalt, dass ihr der Herzschlag stockte. Mit kräftigen Armzügen und ungestümen Beinschlägen tauchte sie tiefer und tiefer, während das Wasser kälter und finsterer wurde. Etwas befand sich dort unten, etwas, das sie sehen musste. Angestrengt starrte sie ins trübe Nichts, um zu erkennen, was es war.
Auf dem Grund angelangt, schon fast ohne Atemluft, schwamm sie näher an die Gestalt heran, die sich nun als Claudia entpuppte, Claudia, nackt und lachend. Komm, spiel mit mir, Ro! Sie streckte die Hand aus und packte Rowena beim Handgelenk.
Ich kann nicht! Ich ertrinke! Lass mich los! Ich komme wieder, aber ich muss erst Luft holen!
Das tust du ja doch nicht!
beharrte Claudia, Rowenas Handgelenk noch fester umfassend.
Du versprichst es immer, aber du tust es nicht! Und hier ist es so einsam!
Mit vor Sauerstoffmangel brennenden Lungen flehte Rowena ihre Schwester an, sie loszulassen.
Wenn du mich nicht hinauf an die Oberfläche lässt, dann sterbe ich, Claudia! Das willst du doch nicht, oder?
Nein, das will ich nicht. Hast du mich lieb,
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