Abschied aus deinem Schatten
Ro?
Aber natürlich! Du bist doch meine kleine Schwester! Du musst mich loslassen, bitte, sonst ertrinke ich!
Ich habe dich auch lieb, Ro. Ich kann nichts dafür, dass alles so gekommen ist! Das musst du mir glauben! Es war wie ein Spiel. Es wurde immer komplizierter, und ich habe immer weitergespielt, doch gewinnen konnte ich nicht. Verstehst du das?
Allmählich verstehe ich. Bitte!
Gut, dann geh! Lebe wohl, Rowlie! Vergiss mich nicht!
Rowena merkte, wie Claudia sie freigab, und schoss senkrecht nach oben.
Als sie die Wasseroberfläche durchbrach, schnappte sie gierig nach Luft und füllte die dürstenden Lungen. Tief über den Rand des Bootsanlegers gebeugt, schrie Mark sie an: „Wo warst du? Du warst so lange da unten, dass ich langsam Angst bekommen habe! Ich wollte dir schon nachspringen!”
Sie warf ihm ein beruhigendes Lächeln zu. „Verzeih, dass ich dir einen Schrecken eingejagt habe, Darling, aber es ist alles okay. Wirklich, mit mir ist alles in Ordnung!”
Reid saß auf ihrer Bettkante und schaute einer Frau zu, die sich entkleidete, während Rowena fasziniert wiederum beide beobachtete. Die Frau war zwar nicht mehr die Jüngste, doch irgendwie erhöhten die Anzeichen zunehmenden Alters – Fältchen an den Augen, schlaffer werdendes Gewebe – noch ihre Attraktivität. Sie war klein, mit knabenhaft gestutzter Frisur und großen, verletzlichen Augen, und in Verbindung mit dem zierlichen Knochenbau verliehen ihr die schlanken Beine eine merkwürdig erotische Aura, deren Kraft sich Reid offenbar nicht entziehen konnte. Außergewöhnlich! dachte Rowena, während sie zusah, wie die Frau sich ungeduldig enthüllte. Ihre Bewegungen waren hektisch, als könne sie ihre immense Begierde kaum zügeln. Rowena konnte es ihr nachfühlen, kannte sie doch diese Empfindung. Reid war ein äußerst attraktiver Mann.
Schau genau hin! Du wirst nie wieder die Gelegenheit bekommen, es so klar wie in diesem Moment zu sehen!
Nackt stand die Frau einen Moment mit hängenden Armen da und ließ sich von dem unübersehbar entflammten Reid, der von ihrem Anblick geradezu hingerissen schien, betrachten. Nach Rowenas Ansicht war sie sehr schön, mit wie poliert glänzender Haut und mit Brüsten, die ihr angesichts des zarten Brustkorbs ziemlich schwer vorkamen. Als könne er kaum noch an sich halten, breitete Reid die Arme aus. Die Frau schmiegte sich an ihn, um dann mit einem tiefen, hingebungsvollen Seufzer seinen Kopf an ihre Brust zu betten.
Im Gegensatz zu Claudias Videos, die anzuschauen Rowena geradezu abstoßend pervers erschienen war, hatte sie beim Betrachten dieses Paares ganz und gar nicht das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun. Es war, als wohne man der gekonnten Aufführung eines klassischen Balletts bei, der man mit Anerkennung und Beifall begegnete – ein zutiefst befriedigendes Gefühl. Mit natürlicher Spontaneität, ohne auch nur die Andeutung einer Planung, führte eine Zärtlichkeit unausweichlich zur nächsten. Reid blieb sitzen, während die Frau stand, und doch sah es so aus, als werde die Verbindung zwischen ihnen immer intensiver – seine Hände, die über die Rückseite ihrer Schenkel glitten, ihr Rücken, der sich ihm fast unmerklich entgegenwölbte, ihre Schultermuskulatur, die sich deutlich spannte. Flimmernde Hitze schien die zwei zu umgeben, und doch erschauerte die Frau, als kühle Luft auf ihre feuchten Brüste traf. Mühelos hob Reid die Frau auf seinen Schoß; sie umschloss Reid mit den Armen, und ihre bebenden Lider senkten sich über ihre Pupillen.
Urplötzlich tauchte Kip im Türrahmen auf. Sofort glitt Rowena in ihren Körper zurück, in einem Augenblick bestürzten Begreifens, als sie erkannte, dass die Frau, die sie so bewundert und beneidet hatte, sie selbst gewesen war. Ein Wimpernschlag nur, und zu ihrem Bedauern ging jenes so herrliche Gefühl von Begehren und Selbstbeherrschung zugleich verloren. Fieberhaft bedeutete sie Reid, er möge sie loslassen, doch er missverstand ihren Wink und hielt sie nur umso fester.
„Lass mich los, um Himmels willen!” Sie stieß ihm die Fäuste gegen die Brust. „Ich kann das nicht, wenn jemand zuschaut! Ich will nicht, dass Kip das sieht!”
Endlich gab Reid sie frei, drehte sich um und sah den jungen Mann an. „Macht dir das was aus, Kip?”
„Na klar, und wie!” Kip grinste. „Tante Ro, du böses Mädchen! Was treibst du denn da für Doktorspielchen mit dem Psychoonkel?”
„Entschuldige, Kip!” Sie drehte ihm den Rücken zu,
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