Abschied aus deinem Schatten
griff nach ihrem Slip und schlüpfte hinein.
„Halb so wild, Tante Ro! Ist dein gutes Recht, wie bei jedem anderen auch! Kein Malheur.”
„Aber dass du mich so siehst …”
„Ach, mach dir bloß keinen Kopf! War doch schön! Und außerdem hätte ich hier nicht so reinplatzen sollen. War gewaltig daneben, echt! Wenn sich einer entschuldigen muss, dann ich!”
„Hörst du, Rowena?” sagte Reid sanft. „Warum fällst du andauernd ein härteres Urteil über dich, als es andere je täten?”
„Ich muss! In diesem Haus bin ich die Einzige, die zu den so genannten Normalen gehört. Irgendjemand muss doch die Zügel in der Hand behalten!”
„Aber nicht immer! Du kannst es mir getrost überlassen, hier ein paar Stunden die Stellung für dich zu halten. Ich tu dir gern den Gefallen.”
„Woher weiß ich, dass das die Wahrheit ist?”
Kip trat ins Zimmer und ließ sich neben Reid auf der Bettkante nieder. „Klingt nach ’nem guten Angebot, Tante Ro. Was soll denn schon groß passieren?”
„Er lügt, Kip! Jemandem, der lügt, darf man nicht trauen!”
„Na, ich weiß nicht. Kommt drauf an, was für Lügen es sind, und warum einer lügt. Der Doc hier kommt mir jedenfalls wie ’n echt cooler Typ vor.” Er und Reid schlugen die Hände erhobenen gegeneinander. „Da gibt’s noch ganz andere, an die du geraten könntest, Tante Ro! Was macht ’n bisschen Geflunker schon aus im großen Ganzen? Jedenfalls nicht viel! So, wie ich es sehe, hast du mächtig Schwein gehabt, dass du überhaupt noch lebst! Da würde ich an deiner Stelle das tun, was mich glücklich macht!”
„Aber jetzt, wo du mich so gesehen hast, bin ich doch sicher in deinen Augen tief gesunken!”
„Wieso das denn? Weil du auch nur ’n Mensch bist? Sex ist okay! Sex ist sogar gut! Hast du mir selbst gesagt! Weißt du noch? Alles hast du mir beigebracht – dass man’s nicht übers Knie brechen, sondern sanft und langsam vorgehen soll, wie man verhütet und sich seiner Verantwortung bewusst wird! Dass man ruhig seine Gefühle zeigen darf! Alles, was wichtig ist. Zeitlebens hast du mir alles Wissenswerte erklärt, wenn meine Mom das nicht brachte oder wenn’s ihr zu peinlich war. Mein Verhältnis zu dir ändert sich doch nicht, nur weil ich dich mal ohne Kleider gesehen habe! Du hast etwas bekommen, das du dir gewünscht hast und das gut für dich ist. Da freue ich mich doch für dich! Ich gönne dir doch alles, was du dir wünscht! Weißt du denn nicht, wie lieb ich dich habe? In vielen Dingen stehst du mir näher als jeder andere Mensch!”
Rowena war, als ginge ihr das Herz auf. Gefühle, so schien es ihr, waren gewichtige Dinge, groß und gewaltig, und einmal erregt, konnten sie sich dermaßen ausbreiten, dass sie beträchtlichen Raum einnahmen. „Ich hab dich ins Herz geschlossen, mein Liebling, seit ich dich das erste Mal sah. Da warst du sieben Stunden alt. Ich wusste, du stelltest für mich die einzige Chance auf ein Kind dar, und dir wollte ich all das geben, was ich nach dem Weggang meines Vater verloren hatte. Du solltest wissen, dass es in deinem Leben jemanden gab, der dich rückhaltlos und auf immer und ewig liebte, der dir immer die Wahrheit sagen würde, selbst wenn es schmerzlich war, diese Wahrheit zu hören oder zu sagen, einen Menschen, der jeden Erfolg, ob klein oder groß, mit dir teilte, der zur Stelle sein würde, wenn du Trost bei Enttäuschungen brauchtest. Du solltest wissen, dass du für mich etwas Zauberhaftes warst und immer sein würdest. Allein die Tatsache, dass es dich gab, dein Anblick – all das erfüllte mich mit Freude, und als ich dich zum ersten Mal in den Armen wiegte, da wusste ich, dass es doch so etwas wie Wunder gibt.”
„Den ganzen Schwachsinn, den Mom mir über meinen Dad erzählt hat, den hab ich nur ausgehalten, weil ich als kleiner Knirps immer zu dir kommen konnte, Tante Ro. Dich konnte ich nämlich fragen, ob es stimmte, dass er auf und davon ist und ich ihm piepegal wäre, und du sagtest dann, er wäre trotz allem immer mein Vater, eines Tages würde sich schon alles finden, egal, was passiert war. Ich hab dir geglaubt, denn du hast mir nie was vorgemacht. Schließlich hat sich doch alles eingerenkt, auch wenn’s ’ne Ecke länger dauerte als vermutet. Du hattest also Recht gehabt. Wenn Mom was gegen meine Freundinnen hatte, mir aber nie den Grund sagen wollte, dann fuhr ich mal kurz bei der Bibliothek vorbei, damit du ’nen Blick auf die Mädels werfen konntest, und später
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