Abschied aus deinem Schatten
hinterlassen. Benommen von der Hitze starrte Rowena das Telefon eine Zeit lang an und ging dann, nachdem sie sich ein Diätgetränk mit Vanillegeschmack aus dem Kühlschrank genommen hatte, wieder hinaus.
Wie ein Blick auf die Uhr zeigte, hatte sie weniger als eine Stunde geschlafen. In dieser Zeit waren jedoch Wolken aufgezogen; die Temperatur war um mehrere Grad gefallen, sodass Rowena die Kühle deutlich spürte. Sie nippte an dem Getränk, während es ringsum immer düsterer wurde und die Sonne hinter dem dichten Grau verschwand. Die Brise frischte spürbar auf; ein Sturm braute sich zusammen. Sie richtete den Blick zum Himmel und grübelte über Marks Bemerkungen nach. Naiv sei sie, hatte er gesagt. Und sie musste einräumen, dass es stimmte.
Wie man sich im Spiel der Geschlechter verhielt, das hatte Rowena nie gelernt. Wenn ihre Mutter ihr die Spielregeln oder das, was sie dafür hielt, begreiflich zu machen versuchte, hatte Rowena stets demonstrativ nicht hingehört und wusste daher nicht, wie die Gesetze gegenseitiger Anziehung funktionierten, warum sich Männer zu gewissen Frauen hingezogen fühlten, Frauen wie Penny beispielsweise. Sicher, Penny sah hübsch aus; ihre Körperfülle war ihrer Schönheit offenbar sogar eher zuträglich als abträglich. Mit ihrer Größe, den fraulichen Rundungen und den üppigen, prallrunden Brüsten wirkte sie einladend und verlockend, wie ein dick gepolsterter Sessel. Durchaus möglich, dass darin das Geheimnis ihrer Anziehungskraft lag. Was aber hatte dann Claudia so anziehend gemacht?
Als Teenager hatte Rowena ihre Schwester in voller Aktion erlebt und sich gefühlt wie in einem fremdsprachigen Film, den man sich ohne Untertitel ansehen musste. Wie in diesem Alter üblich, wurden die Jungen wahrscheinlich von Claudias gefährlicher Aura angezogen, von jener Unberechenbarkeit, die sie ausstrahlte. Womöglich verglichen sie Claudia mit einem frisierten Auto, mit dem sie die aufregendste Tour ihres Lebens unternahmen, und zwar mit derart halsbrecherischem Tempo, dass sie dabei Kopf und Kragen riskierten. Vielleicht ahnten sie auch, dass Claudia für sie die Schenkel spreizen und ihnen die lang ersehnte Einführung in die Wunderwelt der Erotik erleichtern würde – vorausgesetzt, man fing es geschickt genug an. Wer wusste das schon? Das Thema war für Rowena ein Buch mit sieben Siegeln und ein Grund mehr, warum sie so vor Reid auf der Hut war. Auch mit ihm würde sie sich auf eine solch gefährliche Spritztour begeben, die Rowena nicht geheuer vorkam, eine Reise hinein in den riesigen Ballsaal der psychologischen Spitzfindigkeiten, wo sich Männer und Frauen zu uralten Tänzen zusammenfanden, deren Schrittfolgen sie nie erlernt hatte – moderne Menuette und wunderliche ländliche Reigen, bei denen sie vom Rande des Parketts zusah, zwar beeindruckt vom Talent der Paare, doch keineswegs versucht, selbst einen Partner zu finden und sich auf die Tanzfläche zu wagen. Denn die Vorstellung, dass sie durch fehlende Erfahrung und mangelndes Geschick gleich in zweifacher Hinsicht benachteiligt war, schreckte sie immer wieder ab. Genau genommen hatte sie ein oder zwei Mal getanzt, doch das waren peinlich ungeschickte Versuche gewesen. Ihr wirkliches Interesse an den Männern manifestierte sich ab und zu in Träumen, und die waren sicher und erfüllend.
Als die ersten Regentropfen fielen, stand sie auf und ging ins Haus. Während sie unschlüssig im Ankleidezimmer stand und überlegte, was sie an diesem Abend anziehen sollte, fiel ihr ein, dass sie morgen Geburtstag hatte. Für einen Augenblick hatte sie das Gefühl, als sacke ihr der Magen weg, als wäre sie mit einem einmotorigen Flugzeug in ein Luftloch geraten. Vierzig! Gütiger Himmel, wo waren die Jahre geblieben? Die Lebensmitte war erreicht; es ging auf die zweite Hälfte der Strecke zu, und zwar bergab. Sie merkte es sogar schon. Kein Zweifel, sie wurde allmählich alt.
Und mit einem Mal stellte sie erneut fest, dass ihr die Schwester fehlte. Claudia war wie eine faszinierende Theaterproduktion gewesen, die tagein, tagaus aufgeführt und offenbar nie abgesetzt wurde. Egozentrisch und eitel, zuweilen beleidigend und dann wieder zu den erstaunlichsten Späßen aufgelegt, hatte sie innerhalb kürzester Zeit umschalten können – von gemein und berechnend im Handumdrehen auf großherzig und freigiebig. Nein, langweilig war sie nie gewesen.
Rowena drehte sich um und schaute hinüber zu dem Bett, in dem Claudia gestorben war.
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