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Abschied aus deinem Schatten

Abschied aus deinem Schatten

Titel: Abschied aus deinem Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Vale Allen
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Sämtliche Unterrichtsfächer in der Schule waren ihr verhasst, insbesondere die Sportstunden, weil es ihr an Koordination mangelte und sie Mannschaftssportarten blöd fand. Die Hausaufgaben wurden nach Möglichkeit ignoriert; Bildung und Lernen waren weiß Gott nicht ihre Welt.
    „Wozu?” In jedem Schulhalbjahr hatte sie vor den Prüfungen dieselbe Frage gestellt. „Alles Käse, den ich im Leben nie wieder brauche! Ist doch völlig schnuppe, ob ich die Prüfung bestehe oder nicht!”
    Ihre Rechtschreibung war katastrophal, ihre Handschrift ungelenk und krakelig. Statt wichtiger Unterrichtsnotizen enthielten ihre Heftseiten unsinnige Kritzeleien und Bemerkungen, die zwischen ihr und einigen Mitschülerinnen und Mitschülern hin und her gewandert waren.
    „Claudia, gehste mit mir ins Kino? Samstagabend? Du weist schon wer!”
    „Liber weist schon wer, weis ich noch nicht. Besprechen wir heute Mitag auf Pakplatz. OK?”
    „Claudia, Caroline hat gesagt, sie hat gehört, wie Jed und Nick sich vor den Spinden unterhalten haben. Jed hat Nick gesagt, er soll lieber die Finger von dir lassen. Wollte ich dir nur schnell mitteilen. Love, ich.”
    „Libe ich, Caroline hat sie nich alle, weis doch jeder! Die kann mich mal! Ruf mich heute abend an. Xoxoxo, Claudia.”
    Zum Stolz ihrer Mutter hatte Claudia dafür allerdings stets über einen großen Bekanntenkreis verfügt. Auf der Beliebtheitsskala ganz oben zu stehen – darauf kam es an. Und eins war unstrittig: Abgesehen von dem Schulhalbjahr in der Privatschule war die Schwester die Beliebteste in der Klasse, wenn auch sonst ein Feigling, der körperliche Schmerzen nicht aushielt. Das einzig Nachvollziehbare an ihrem angeblichen Selbstmord war die Art der Selbsttötung. Ein Mal nur unterzog sich Claudia aus freien Stücken einer schmerzhaften Prozedur: bei ihrer Schönheitsoperation. Sie ließ alles in einem Durchgang machen und hielt volle zwei Wochen nur mit Hilfe großer Valiumdosen durch, jammerte aber gleichzeitig jedem, der ihr zuhörte, vor, wie weh ihr doch alles tue. Sie schreckte sogar nicht davor zurück, das Pyjamaoberteil aufzuknöpfen, um Mutter und Schwester die Schnitte unter ihren frisch vergrößerten Brüsten zu zeigen. „Seht nur!” rief sie aus, geradezu übertrieben beleidigt und in der Pose eines schmollenden Kleinkindes. Mit widerwillig verzogenem Gesicht wandte Jeanne sich ab und beschäftigte sich angelegentlich damit, eine Zigarette anzuzünden. Rowena hingegen starrte fasziniert auf Claudia und sah zu, wie die Schwester die zwei Hügel aus viel zu straffem, entzündetem Fleisch vorsichtig mit beiden Händen anhob, damit man die übel aussehenden, vernähten Wunden darunter sehen konnte. „Seht ihr?”
    Selbst der Gang zum Zahnarzt hatte bei Claudia, als sie noch ein kleines Mädchen war, blankes Entsetzen ausgelöst. An eine Begebenheit konnte Rowena sich noch lebhaft erinnern. Sie hatten beide im Wartezimmer gesessen, und genau in dem Augenblick, als Rowena ihrer damals neunjährigen Schwester zufällig einen Blick zuwarf, wich dieser das Blut aus dem Gesicht. Ohnmächtig sackte sie zusammen und rutschte zu Boden. Als Rowena nach der vorgesehenen Routineuntersuchung aus dem Behandlungszimmer kam – Jeanne hatte sie vorher hineinbegeleitet –, waren alle drei sofort heimgefahren. Claudia erhielt vier weitere Wochen Schonzeit, bevor sie wieder zum Zahnarzt musste.
    Und jetzt war sie dem Zahnarzt endgültig entkommen und brauchte keine Schmerzen mehr zu fürchten. Warum aber hatte sie Hand an sich gelegt? Oder hatte etwa eine fremde Person ihrem Leben ein Ende gesetzt? Hätte sie doch einen Abschiedsbrief, ein paar hingekritzelte Worte hinterlassen! Es gab einfach keine Erklärung, und deshalb, so schien es Rowena, blieb ihr keine Wahl: Sie musste weitersuchen.
    Als sie wieder im Restaurant ankam, sah es so aus, als sollte der Abend gleich von Anfang an zu einem Fiasko zu werden. Nicht genug damit, dass Amanda sich krankgemeldet hatte – kurz vor Rowenas Ankunft war auch Ian gegangen, weil er irgendetwas zu erledigen hatte. Also musste Rowena Mae bitten, den Eingangsbereich im Auge zu behalten, während sie selbst in den Keller eilte, um die Flaschen für die ersten Weinbestellungen zu holen. Das brauchte allerdings seine Zeit, weil sie mit der Organisation des Weinkellers nicht vertraut war und die entsprechenden Flaschen nicht gleich fand. Schließlich musste sie auch noch von Tisch zu Tisch gehen, bis feststand, dass sie mit dem

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