Abschied aus deinem Schatten
Früher hatte es ihrer Mutter und dann der Schwester gehört. Nun gehörte es ihr. Wieder sah sie Claudia vor sich, wie sie im Tode ausgesehen hatte – leblos und stumm, die sterbliche Hülle eines einst rätselhaften und letztlich unergründlichen Wesens.
Dann plötzlich, wie bei den kleinen Daumenkinos, mit denen sie als Kind so gern gespielt hatte, sah sie Szenen aus Claudias Filmchen: fahrige, zuckende Bewegungen, das triumphierende Lächeln zum Schluss. Zum ersten Mal, seit Rowena die Bänder entdeckt hatte, verspürte sie nicht Scham oder Zorn, sondern Mitleid mit der Frau, die derart handfeste Beweise für ihre Macht über Männer und für ihre erotische Anziehungskraft benötigt hatte.
Arme Claudia, dachte sie; und je mehr ihr Zorn schwand, desto stärker vermisste sie ihre Schwester. Oder vermisste sie vielmehr die Dramen, die sich zwischendurch abgespielt hatten? Das verblüffende Auf und Ab, auf das man bei Claudia stets gefasst sein musste, zuweilen sogar während ein und desselben Gesprächs? Gemocht oder vertraut hatte sie Claudia nie, geliebt hingegen hatte sie die Schwester durchaus, und das oftmals unter unmöglichen Umständen und ohne ersichtlichen Grund – ein fahles, blindes Gefühl, gleich einem Regenwurm, der sich endlos durchs Erdreich windet. Mit einer ganz eigenen Zählebigkeit hatte dies Gefühl zahllose Attacken überlebt.
Eines Nachmittags, so erinnerte sie sich, war sie etwas später als gewöhnlich aus der Schule nach Hause gekommen und hatte Claudia dabei erwischt, wie sie in ihrem, Rowenas, Zimmer am Schreibtisch saß und in deren Tagebuch herumstöberte. Obwohl die Schwester sie auf frischer Tat ertappt hatte, war Claudia automatisch zum Angriff übergegangen. „Wieso spionierst du einem eigentlich immer nach?” hatte sie verdrossen gemault, das Tagebuch verärgert in die Schublade gefeuert und diese zugeknallt. „Ich hasse diese fiese Tour, Ro!”
Rowena hatte es ob dieser Dreistigkeit dermaßen die Sprache verschlagen, dass ihr die Kinnlade herunterklappte, während ihre zwölfjährige Schwester ungerührt an ihr vorbei zur Tür marschierte und ihr auch noch eine Abfälligkeit an den Kopf warf. „In dem Tagebuch steht lauter langweiliges Zeug, von vorn bis hinten. Sogar deine Träume sind öde. Da hab ich in meinem Tagebuch aber ganz andere Sachen! Zeige ich dir vielleicht mal!” Und als sei nichts geschehen, hatte sie hinzugefügt: „Mommy hat angerufen und gesagt, sie bleibt zum Dinner im Club. Aber heute ist Irmas freier Tag! Sie hat uns so einen ekligen Schmortopf dagelassen. Keinen Bissen kriege ich runter von dem Zeug! Sollte Mommy mal ’ne Haushälterin anstellen, die tatsächlich kochen kann, fall ich vor Schreck wahrscheinlich tot um. Also, was denkst du, Ro? Du machst deine Hausaufgaben, und in der Zeit fahre ich mit dem Fahrrad zur Pizzeria und hole uns ’ne Pizza. Dann hocken wir uns zusammen vor den Fernseher. Abgemacht?”
Das Ganze war eine solche Unverschämtheit, dass Rowena darüber nur lachen konnte. Und Lachen, das merkte sie dabei, erwies sich als sehr wertvolles Instrument im Umgang mit Claudia. Denn dadurch nahm man ihr den Wind aus den Segeln, und sie sah aus wie ein verwirrtes, verlorenes Kind.
„Ach, komm!” bettelte Claudia dann. „Wenn ich da unten ganz allein hocken muss, langweile ich mich so. Und sieh dir das Essen bloß mal an! Dann magst du es nämlich auch nicht mehr!”
„Meinetwegen!” Rowena hatte nachgegeben, weil ihr an ihrer Schwester etwas aufgefallen war, das sie damals nicht genau hatte definieren können. Jetzt, in der Rückschau, stellte es sich als Verzweiflung heraus. „Aber eins sage ich dir: Ab sofort ist mein Zimmer für dich tabu!”
„Ja, ja!” Sofort hatte Claudia fröhlich eingelenkt. „Geht klar!”
Verzweiflung! Noch einmal blickte Rowena zum Bett hinüber. Wenn Claudia nicht in den Kleiderschränken und Kommodenschubladen von Mutter und Schwester herumschnüffelte, wenn sie nicht im Badezimmer mit Make-up experimentierte oder sich das Haar zu allen möglichen Frisuren zurechtmachte, wenn sie nicht mit jemandem telefonierte, dann langweilte sie sich beinahe zu Tode. Es bedeutete geradezu eine Tortur für sie, sich mit etwas anderem zu beschäftigen. Bücher mit Fotografien oder Modejournale im Hochglanzformat mochten noch angehen, doch nie kam es vor, dass sie einfach nur um des Lesens willen ein Buch zur Hand nahm. Sie fand es uninteressant, und konzentrieren konnte sie sich ohnehin nicht.
Weitere Kostenlose Bücher