Abschied aus deinem Schatten
dass sie allmählich einzuschlafen drohte. Sie kletterte aus der Wanne, trocknete sich ab, schlüpfte ins Bett und fiel sofort in einen schweren und gottlob traumlosen Schlaf.
Am folgenden Morgen stand sie mit Kopfweh und schmerzenden Armen auf und hörte als Erstes, nachdem sie eine Kanne starken Kaffee aufgesetzt hatte, ihren Anrufbeantworter ab. Der einzige Anruf stammte von Tony Reid. „Ich weiß, es ist keine besonders originelle Ausrede dafür, dass ich nicht früher angerufen habe”, sagte er mit seiner wohltönenden Stimme. „Nur hatte ich leider letzte Woche nicht eine freie Minute. Ich hoffe, es bleibt bei Sonntag! Rufen Sie doch bitte bei Gelegenheit zurück, damit ich Bescheid weiß. Wiederhören.”
Dass er sich doch noch gemeldet hatte, freute sie zwar, aber sich nun persönlich mit ihm auseinander zu setzen, dazu vermochte sie sich nicht aufzuraffen. Da sie wusste, dass er auch am Samstagmorgen in seiner Praxis war, wählte sie seinen Privatanschluss und hinterließ ihm eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. „Hallo, Rowena hier. Wegen Sonntag weiß ich noch nicht genau. Lassen wir’s drauf ankommen und warten wir ab, was wird. Morgen bin ich zunächst im Restaurant, aber etwa ab drei zu Hause. Wir sprechen uns dann.”
Sie schluckte zwei starke Kopfschmerztabletten und ließ sich geschlagene vierzig Minuten bei Kaffee und Zigaretten durch den Kopf gehen, was sie wegen Kip unternehmen könnte – falls dies überhaupt möglich war. Bei der momentanen Gefühlslage seiner Mutter würde der Junge es schwer haben, den Rest des Sommers überhaupt einigermaßen unbeschadet zu überstehen, von dem Schuljahr, das vor ihm lag, ganz zu schweigen. Und leider hatte es gegenwärtig den Anschein, als würde die Lage nur verschlimmert, wenn sie etwas unternähme. Rowena sah ein, dass sie kein Recht hatte, sich einzumischen. Eins musste man Penny lassen: Auch wenn sie sich in letzter Zeit danebenbenommen hatte, konnte man ihr als Mutter nichts nachsagen. Es war kein Zufall, dass ihr Sohn sich zu einem so anständigen jungen Mann entwickelt hatte. Mehr als ihre weitere Unterstützung konnte Rowena dem Jungen jedoch vorerst nicht versprechen. Ansonsten musste sie sich darauf verlassen, dass seine Mutter ein Einsehen hatte und ihn in Ruhe ließ.
Nachdem das Kopfweh nachgelassen hatte, ging sie in den Keller und nahm sich die Kisten vor, die, wahllos übereinander gestapelt, vor der hinteren Wand des einstigen Hobbykellers standen. Dieser Kellerraum nahm drei Viertel der gesamten Fläche unter dem eigentlichen Haus ein, während das restliche Viertel in zwei Kammern aufgeteilt worden war. In einem befanden sich Heizungsanlage, Sicherungskasten und Warmwassertank, der andere diente als Waschküche. Seufzend machte sich Rowena an die Arbeit, sichtete kurz den Inhalt und trennte dementsprechend die Kartons. Diejenigen, die Claudias Papiere enthielten, kamen auf eine Seite, die mit den Dokumenten ihrer Mutter auf die andere. Nach etwa einer Stunde hatte Rowena, verschwitzt und die Hände verdreckt, zahlreiche Kisten auf diese Weise eingeteilt. Danach stellte sie sich den Bridge-Tisch zurecht, schnappte sich einen Klappstuhl, holte eine Leuchte aus ihrem alten Jungmädchenzimmer sowie eine Rolle großer Müllsäcke dazu und nahm den ersten Stapel von Jeannes Unterlagen in Angriff.
Das Ganze war ein einziges Durcheinander. Rowena merkte rasch, dass Claudia die Papiere nach dem Tod ihrer Mutter wahllos und ungeordnet in die Kisten geworfen hatte – bezahlte Rechnungen, längst abgelaufene Kreditkarten, Bankauszüge sowie eine beträchtliche Anzahl von Genesungswünschen und Karten, die einmal zu Blumensträußen gehört hatten. In dem Jahr vor ihrem Tod hatte Jeanne einen Krankenhausaufenthalt nach dem anderen ertragen müssen und jedes Mal zahlreiche Blumengrüße von Freunden und Bekannten erhalten.
Bevor sie die Sachen wegwarf, überprüfte Rowena jeden einzelnen Beleg – eine Zeit raubende, doch nicht uninteressante Arbeit. Jeanne hatte von je her auf großem Fuß gelebt und diesen Lebensstil auch bis wenige Monate vor ihrem Ableben beibehalten. Allerdings fanden sich nun mehrere Kassenbons aus Geschäften in Manhattan, die Jeanne in ihrem angegriffenen Gesundheitszustand unmöglich aufgesucht haben konnte. Folglich hatte wohl Claudia die Kreditkarten ihrer Mutter benutzt, um äußerst nobel einzukaufen: eine Handtasche von Louis Vitton, ein halbes Dutzend Kleider zu durchschnittlich achthundert Dollar das
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