Abschied aus deinem Schatten
deshalb sag ich dir ja, dass es nicht deine Schuld ist. Denk immer daran. Alles klar?”
„Ich will’s versuchen. Wenn ich nur wüsste, wieso alles so total ätzend geworden ist!”
„Das wüsste ich auch gerne”, sagte Rowena mit Nachdruck.
15. KAPITEL
V erstört und erschöpft musste Rowena sich während der Heimfahrt bewusst auf ihr Auto und die Fahrbahn vor sich konzentrieren, denn immer wieder spielte sich in ihrem Kopf die Szene mit Penny ab. Bezüglich ihres eigenen Verhaltens bei dem Vorfall hatte sie sich eigentlich nicht das Geringste vorzuwerfen. Trotzdem blieb ein schlechtes Gewissen, was angesichts der Tatsache, dass Penny sich schrecklich aufgeführt hatte, geradezu lächerlich war. Dennoch überlegte Rowena sich, ob sie die Situation wohl anders hätte bewältigen können, und durch das angestrengte Grübeln erschien ihr die Fahrt erheblich länger als üblich. Traurig und mitgenommen wollte sie nur noch heim und ins Bett. Doch die Traurigkeit in ihr war wie ein wildes Tier, das aus einem Käfig ausgebrochenen war, und das sie mit heißen, mächtigen Pranken gefangen hielt und ihr langsam die Luft aus den Lungen quetschte – ein altes, nur zu bekanntes Gefühl, das Rowena jahrelang erfolgreich unterdrückt hatte, gegen das sie allerdings nun, da es aller Fesseln ledig war, kaum mehr ankam.
Längst vergessene Szenen aus Kindertagen blitzten in ihr wie auf einem Bildschirm auf, wahllos aufflammende Ausschnitte, nur sporadisch beleuchtet, um dann von anderen abgelöst zu werden – eine ununterbrochene Serie aus Licht- und Klangeffekten. Keiner der Bildfetzen verharrte lange genug, um ihn näher beleuchten zu können. Sobald Rowena sich etwas genauer auf einen konzentrierte, wechselte er bereits wieder Konturen und Inhalt. Erneut war sie den Tränen nahe, mühte sich mit der Erkenntnis ab, dass sie Penny als Freundin verloren hatte, und versuchte zu begreifen, warum die Freundschaft in die Brüche gegangen war.
Rowena hatte das Gefühl, als sei ihre Traurigkeit wie ein flüssiger Schlüssel, der in ein Schloss in ihrem Inneren sickerte, dieses entriegelte und damit eine ganze Flut von Erinnerungen an Verlorenes auslöste: an Tim und seine gutmütige, humorvolle und noble Art; an Bruder und Vater, selbst die Mutter. Der Gedanke an Jeanne erinnerte sie an die Kisten, die im Keller warteten, wodurch ihre Erschöpfung sich nur noch verstärkte. Sie trat das Gaspedal weiter durch, um so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.
Vor der Haustür griff sie automatisch zum Tastfeld der Alarmanlage, um diese zu deaktivieren. Entsetzt musste sie jedoch feststellen, dass sie bereits ausgeschaltet war. Statt des roten Blinklichts, das den aktivierten Zustand kennzeichnete, glühte nur durchgängig das grüne Lämpchen mit der Aufschrift „aus”. Starr vor Angst, mit ausgetrocknetem Mund und klopfendem Herzen, schaute sie sich um. Irgendwo rauschte fließendes Wasser. Plötzlich verstummte das Rauschen, und am Ende des Korridors erschien eine Gestalt, die sich dunkel vor dem Licht abhob, das aus der Küche drang. Fast setzte Rowenas Herz aus; sie öffnete den Mund, brachte aber nicht einen Ton hervor. Der zweite Einbruch! Diesmal war sie selbst in Gefahr, konnte verletzt, womöglich getötet werden! Lauf! befahl sie sich. Renn weg! Schrei! Dies darf unmöglich das Ende sein! Du bist erst vierzig! Noch viel zu jung! Doch wie in einem Albtraum verharrte sie sprachlos und wie gelähmt. Die Traurigkeit hielt Rowena weiterhin in jener schier erdrückenden Umklammerung gefangen, während sie bereits in Gedanken den Verlust ihres Lebens beklagte. Dabei wollte sie gar nicht sterben! Stumm verfluchte sie die Ungerechtigkeit der Situation. Warum nur konnte sie sich nicht rühren?
„Alles in Ordnung?” Mark eilte auf sie zu, legte die Hände auf ihre Schultern und schaute ihr forschend in die Augen. „Kip hat mich bereits telefonisch unterrichtet. Da bin ich direkt herübergekommen, um auf dich zu warten.”
Die Nachwirkungen von Schock und Erleichterung setzten zeitgleich ein. Den Mund noch immer geöffnet, wäre sie vor Angst um ein Haar zitternd zusammengebrochen, bevor sie sich endlich wieder unter Kontrolle hatte. „Mark!” schrie sie auf und sackte gegen ihn. „Ich hatte solche Angst!” Ihre Panik machte sich in unzusammenhängendem, von Schluchzen unterbrochenem Gestammel Luft.
„Herzchen”, sagte er und drückte sie an sich, „dein Gebrabbel versteht kein Mensch. Du gehst jetzt rauf und ziehst
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