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Abschied und Wiedersehen

Abschied und Wiedersehen

Titel: Abschied und Wiedersehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Horst Biernath
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ihr richtig schwach, und einmal fiel sie richtig in Ohnmacht. Vielleicht aber hingen diese Schwächeanfälle auch gar nicht mit der Erwähnung der Kallweitschen Vorräte zusammen, denn solche Anfälle von fliegender Hitze, Atemnot und Herzbeschwerden wiederholten sich einige Jahre hindurch immer wieder, auch dann noch, als es uns schon wieder besser und endlich so gut ging, daß Mutter die eigene Speisekammer mit Speck, fetten Würsten, Eiern und allerlei Eingemachtem füllen konnte. -Wie gesagt, mit dem Geld für die Handwerker- und Hausmeisterdienste war nicht mehr viel anzufangen. Dann aber wurde es doch wieder interessant, denn ich entflammte in einer neuen Leidenschaft. Der Excentric-Club war an Ideenmangel eingegangen. Das Schlagballspiel auf dem Walter-Simon-Platz füllte auch nicht die ganze Woche aus. So tobten wir uns in Prügeleien untereinander oder mit den Jungen vom Schlorrengymnasium Hufen aus. Dort waren die Anführer die Brüder Geier, Söhne des Friedhofsinspektors vom Luisenkirchhof, von denen wir leider trotz unserem Latein und Französisch zumeist fürchterliche Abreibungen bezogen. Der einzige, der diesen Raufereien keinen Geschmack abgewinnen konnte, war der >Schriftsteller< Kurt Gronwald. Von daheim bekam er ein recht großzügig bemessenes Taschengeld, von dem er jeden Pfennig für die Sonntagnachmittags-Vorstellungen des Luisentheaters und für eine neue Art von Kunstgenuß, den Kintopp, aufsparte. Eines Tages beschwatzte er mich, dem er Aufnahmebereitschaft für höhere Dinge zuzutrauen schien, im Luisentheater eine Aufführung der >Rose von Stambul< zu besuchen. Abgesehen davon, daß es ein grauer, verregneter Sonntag war, herrschte bei uns zu Hause an Sonn- und Feiertagen gähnende Langeweile. Die Gewaltmärsche hatte Vater aus körperlicher Schwäche längst aufgegeben. Er war froh, wenn er sich zum Dienst schleppen konnte. Manchmal gingen wir noch ein Stück am Landgraben entlang nach Juditten, aber die sechs Kilometer schaffte Vater nicht mehr. Um den Spaziergang mit etwas Nützlichem zu verbinden, sammelten wir je nach Jahreszeit Hagebutten, Lindenblüten, Holunderbeeren oder Pilze, von denen am Landgraben Reizker, Kremplinge und Birkenpilze in Mengen wuchsen. Besonders die Reizker gaben, mit Schalotten und Senfkörnern in Essig eingelegt, zu Bratkartoffeln ein richtiges Festessen her.
    Kurt Gronwald also überredete mich nicht nur zum Theaterbesuch, er spendierte mir sogar eine Karte für eine der hinteren Parkettreihen. Und das Unerwartete geschah, kaum, daß die Ouvertüre verklungen und der Vorhang aufgegangen war, versank die Welt um mich, und ich war der Gefangene eines Zauberbanns, dem ich nie mehr entrinnen sollte. Das Luisentheater war eine reine Operettenbühne, und wenn ich der Operette auch bald untreu wurde, so hatte sie doch eine Flamme in meinem Herzen entzündet, die in mir bis zum letzten Atemzug brennen wird. Fortan sparte ich jeden Groschen für diese Nachmittagsvorstellungen, und für die andere Leidenschaft, die Kurt Gronwald vor mir entdeckt hatte - das Kino. Lieber Gott, was waren das für Kriegsschnulzen, die da über die Leinwand flimmerten und das Publikum zu Tränen rührten: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall« - da folgte ein Primaner seinem Lehrer voll Begeisterung ins Feld und fiel, während der Klavierspieler den guten Kameraden intonierte, an seiner Seite für Kaiser und Reich. »Auf dem Felde der Ehre« - wo ein Offizier des Kaisers Rock wegen Spielschulden ausziehen muß und dann im grauen Ehrenkleid als gemeiner Soldat seiner Schuld und seiner Schulden durch den Heldentod ledig wird. Wir heulten wie die Schloßhunde und schämten uns unserer Tränen nicht. Allerdings ließen wir die Tränen hinter der Leinwand fließen, und das kam so: die Plätze im Parkett kosteten zwischen fünfzig Pfennigen und einsfünfzig. Wir aber entdeckten zwei Kinematographentheater, in denen es hinter der Leinwand einen winzigen Raum mit einer an die Rückwand gequetschten Bank gab. Ein Rasiersitz, aber dort zahlte man für den Platz nur zwanzig Pfennige - und die kassierte der Billetteur in die eigene Tasche. Natürlich sah man die Vorgänge auf der Leinwand seitenverkehrt. Das war nicht weiter schlimm. Schlimmer war, daß man auch die Begleittexte - soweit Dialoge und Erklärungen zur Handlung nicht von einem Sprecher mit Zuhilfenahme eines Zeigestocks gegeben wurden - ebenfalls seitenverkehrt lesen mußte. Kurt Gronwald hatte darin durch lange Übung eine erstaunliche

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