Abschied und Wiedersehen
Goldwasser zu halten. Noch heute, nach fünfundfünfzig Jahren, verspüre ich beim bloßen Anblick einer Flasche mit in der klaren Flüssigkeit schwimmenden winzigen Goldplättchen ein beklommenes Gefühl, das vom Magen zur Kehle steigt und die Zunge trocken werden läßt. Ich verbrachte die beiden letzten Ferientage im Bett, aber nicht bei Onkel Walter in Pogegen. Bei ihm hatte ich für lange Zeit ausgespielt und durch mein schandbares Betragen nicht nur seinen Anzug, sondern auch die Familienehre besudelt. Denn bei dem gewiß gut gemeinten Versuch, mich zur Wiedererlangung meiner körperlichen und geistigen Kräfte aus seiner Rapsölflasche zu tränken, waren Rapsöl und Danziger Goldwasser fontänenartig aus mir heraus- und über ihn hinweggesprudelt. Das erfuhr ich allerdings von Tante Grete und Onkel Karl, die mich bis zur Abfahrt liebreich pflegten und auch dafür sorgten, daß mich Paul, einer der Pösche-Söhne, nach Tilsit kutschierte. »Ewig schade, Jungchen«, sagte Tante Grete beim Abschied, »daß du so früh schlapp gemacht hast. Du hättest dich an den Pilikaller halten sollen, da wäre dir das nicht passiert. Denn so eine Geburtstagsfeier wirst du nicht mehr erleben. Die hauen noch mindestens acht Tage auf die Pauke - als ob morgen die Welt untergeht...« Tante Grete, die ihre Rundlichkeit nicht zuletzt dem Pillkaller verdankte - auf das Glas Aquavit legte man nach Art des Nikolaschka anstatt der Zitronenscheibe eine dicke Scheibe Leberwurst mit einem Klacks Mostrich - nein, Tante Grete war gewiß keine Prophetin, und doch mußte ich an ihre Worte denken, man habe Herrn Pösches Geburtstag gefeiert, als ob am nächsten Tag der Weltuntergang zu befürchten sei, als uns ein halbes Jahr später die Nachricht erreichte, daß die französische Besatzung des Memellandes über Nacht abgezogen war, daß die Litauer das waffenlose Land im Handstreich besetzt und seine deutschen Bewohner davongejagt hatten. Sie wurden gezwungen, ihre Häuser und Höfe innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu verlassen, mit einem Handgepäck pro Person, das zwanzig Kilo nicht übersteigen durfte. So kam Onkel Walter um seine Zigarettenfabrik. So erschienen Tante Grete und Onkel Karl eines Tages mit zwei armseligen Koffern bei uns. Und so verloren die Pösches ihren stattlichen Besitz und ihr Vermögen. Sie fanden in Metgethen Unterschlupf, in der Villa eines Königsberger Kaufmanns, der ihnen drei Zimmer abtrat. Es waren sieben Personen, der Vater Pösche und seine Frau, zwei Töchter und drei erwachsene Söhne, von denen der älteste sein Leben im Rollstuhl verbringen mußte; er war vor einigen Jahren bei einem Jagdspringen mit seinem Pferd so unglücklich gestürzt, daß er eine Querschnittlähmung davontrug. Seither fertigte er kunstvolle Handarbeiten an, stickte Tischdecken in Lochstickerei und Richelieu, die sogar Mutters ungeteilte Bewunderung fanden, verkaufte sie an ein Handarbeitsgeschäft in der Theaterstraße und hielt damit sich und seine Familie fürs erste über Wasser. Vater Pösche aber griff mit seinen beiden Söhnen und mit seinen Töchtern zur Sense, erwirkte die Erlaubnis, die Chausseegräben zwischen Metgethen und Königsberg abmähen zu dürfen, schloß mit dem städtischen Fuhrpark und mit einigen Speditionsfirmen einen Vertrag über die Belieferung mit Heu ab, gründete schließlich mit einem Pferdchen ein eigenes Transportunternehmen und kam in mühseliger Plackerei nach wenigen Jahren zu so viel Vermögen, daß er das Metgether Haus und einen Grund dazu kaufen konnte. Ich bewunderte ihn, und es zog mich immer wieder in das gastfreie Haus, natürlich auch zu der hübschen Hermine, vor allem aber zu dem: blassen Mann im Rollstuhl, der völlig frei von Selbstmitleid sein Schicksal mit bewunderungswürdiger Gelassenheit trug. Wenn die Dämmerung hereinbrach und er die Hände vom Stickrahmen sinken ließ, griff er zu einem Buch, zu Hölderlin, den er besonders liebte, oder zum Faust, dessen beide Teile er auswendig zitierte.
»Weißt du«, sagte er in seiner breit singenden, fast ein wenig baltisch gefärbten Sprechweise, »ich war immer der Bücherwurm in der Familie. Deshalb wollten sie mich auch studieren lassen. Kurz vor dem Abitur passierte es. Mein Alter und die beiden Jungens hätten mit sich Schluß gemacht. Das ist ihre Art. Und ich verstehe sie. Ich verstehe auch, daß Paul mir den geladenen Revolver neben das Bett legte. Er hätte von mir den gleichen Liebesdienst erwartet. Aber ich hatte gerade
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