Abschied von Chautauqua
geschlafen.»
«Justin?»
«Ich weiß nicht», sagte auch er. «Vielleicht eine Stunde?»
Die Einzige, die ihr Auskunft geben konnte, war Arlene. Mindestens anderthalb Stunden, sagte sie, vielleicht auch zwei. Sie fragte, ob sie auf die Kinder aufpassen solle, damit Meg nach Sarah suchen könne.
Keiner von beiden brauchte das verschwundene Mädchen zu erwähnen. Es gefiel Meg nicht, dass es unausgesprochen und melodramatisch in der Luft hing, absurd in seiner Schlussfolgerung. Wenn sie so dächte, könnte sie Sarah nicht aus dem Haus lassen.
«Es ist bestimmt alles in Ordnung», sagte Meg, doch jetzt hatte sie ihre Zweifel. Als Arlene behauptete, ihr gehe es wieder gut, und auf die Veranda zurückkehrte, musste Meg sich beherrschen, um nicht zu den Teichen rüberzugehen, teils, weil Sarah sofort wüsste, dass Meg sie kontrollierte - dass sie sie wie ein kleines Kind behandelte, würde sie voller Empörung sagen. Und Meg konnte sich auch an ähnliche Tage erinnern, als sie selbst dreizehn, vierzehn gewesen war und allein sein wollte, als die Teiche ihre einzige Zuflucht waren. Es konnte an Mark oder Sarahs Vater liegen, oder vielleicht gab es gar keine Ursache, war nur eine grundlose Wut oder die ausgelassene Freiheit, einfach in der Sonne zu sitzen. Meg hatte es aufgegeben, Sarahs Stimmungsschwankungen begreifen zu wollen, behielt ihre Tochter aber im Auge, aus Sorge - wie heuchlerisch -, sie könnte sich bekiffen. Einmal im Monat durchsuchte sie beiläufig Sarahs Schubladen, die Wand aus Schuhkartons in ihrem Schrank. Ihre größte Angst war, dass Sarah einmal wie sie sein würde, so wie sich Meg davor fürchtete, wie ihre Mutter zu werden. In ihren Wortgefechten konnte sie das Echo von Kämpfen hören, die schon vor langer Zeit ausgefochten worden waren. Damals hatte ihre Mutter lachend vorausgesagt, Meg werde eines Tages selbst eine Tochter haben, als würde sie sie mit einem Fluch belegen. In ihren schlimmsten Momenten dachte Meg, es habe sich erfüllt, sie hätten die Plätze getauscht, und rief sich mit krankhaftem Stolz ins Gedächtnis, dass sie ihre eigenen Fehler begangen hatte, die weit über die ihrer Mutter hinausgingen.
Justin sagte, es gehe ihm gut, aber er wolle den Eisbeutel noch drauflassen. Sie untersuchte ihn ein letztes Mal, mit fachmännischem Ernst. Die Schwellung war zurückgegangen. Wenn sie ihn bemutterte, war er noch immer zufrieden.
Sie schüttete sich das Cap'n Crunch, das ihre Mutter ihr besorgt hatte, in eine Schüssel und stellte fest, dass sich schon jemand anders etwas davon genommen hatte. Sie überlegte, ob sie aus einem der Gläser ihres Vaters - vielleicht dem mit dem Olds, seinem Lieblingsglas - Orangensaft trinken sollte, aber Arlene hatte Kaffee gemacht, und Meg ließ ihr Sue Grafton-Buch auf der Veranda, nahm ihr Frühstück mit auf den Steg und gab sich der Mischung aus Süßem und Koffein hin, den letzten gesellschaftlich akzeptierten Rauschmitteln, die sie auch dringend brauchte.
Seit der Reha war sie oft tagelang müde, eine Nebenwirkung, als wäre ihr Körper durch die Veränderung ausgelaugt, als wäre die Nüchternheit eine neue Zeitzone. Hier war es einfacher, da sie den seltenen Luxus genoss, lange schlafen zu können, doch zu Hause war sie frühmorgens nervös, ihr Verstand benebelt. Dann kam sie sich vor wie an einem anderen Ort, obwohl sie nirgends hingefahren war. Sie vergaß, Entschuldigungen zu schreiben, damit die Kinder während der Schulzeit zum Arzt gehen konnten, und rief jedes Mal im Büro an. Die Sekretärinnen dachten bestimmt schon, dass Meg ein Fall für die Klapse war.
Die Sonne drang durch sie hindurch. Sie hatte sich nicht duschen können, und der vorige Tag klebte an ihrer Haut wie Fett. Jetzt löste es sich auf. Bestimmt roch sie unangenehm. Egal. Sie löffelte ihr Cap'n Crunch und folgte mit dem Blick einem Schwarm Segelboote, die, erst in die eine und dann in die andere Richtung, über die Regattastrecke am Glockenturm glitten. Meg fragte sich, wie Ken sich mit ihrer Mutter vertrug, und alles ringsum kam ihr plötzlich gefährdet vor, als könnte es verschwinden. Sie konnte für die Kinder streiten, den Gedanken eines gemeinsamen Erbes, für Kontinuität, aber letztlich musste sie an die Liebe ihrer Mutter zum Sommerhaus appellieren. Nicht ihretwegen oder wegen Ken oder ihrem Vater, sondern wegen Megs idealisierter Vorstellung davon, was ihre Familie an diesem Ort gewesen war, wegen ihrer perfekten
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