Abschied von Chautauqua
nicht richtig. Sie kehrte ihr den Rücken zu und streifte ihr Schlafanzugoberteil über, warf ihre Shorts auf den Boden. Das Zimmer sah nicht so schlimm aus.
Sarah nahm vor dem Spiegel ihre Ohrringe ab. «Ich kann kaum glauben, dass ich meine Taschenuhr verloren hab.»
«Ich weiß», sagte Ella mitfühlend und dachte: Sam.
«Diese Uhr hat mir viel bedeutet.»
Weil sie von Mark war. Das brauchte Sarah nicht zu sagen. Ella wusste, dass es falsch war, sich über das Verschwinden der Uhr zu freuen, aber sie konnte nicht anders. In letzter Zeit hatte sie lauter verrückte Gedanken.
Die Badezimmertür war nicht abgeschlossen.
«Verschwinde», sagte Sam, der auf dem Klo saß.
«Mach wenigstens die Lüftung an.» Sie tat es selbst, auch wegen des Lärms. Sie wollte nicht, dass Sarah sie hörte. «Wo ist sie?»
«Was denn ?»
«Wo ist sie?»
«Wo ist was?»
«Du weißt schon.»
«Was meinst du?»
«Wo ist die Taschenuhr? Ich weiß, dass du sie gestohlen hast.»
«Hab ich nicht.»
«Sam, lüg mich nicht an, ich weiß, dass du's warst. Ich sag's Mom.»
«Mach doch.»
«Ich tu's wirklich.»
«Ich hab nichts getan. Und jetzt verschwinde, ich will kacken.»
Sie wusste nicht genau, ob er log, das konnte er gut. Die Taschenuhr war genau das, was er stehlen würde.
«Beeil dich», sagte sie. «Wir anderen müssen auch auf die Toilette.»
Morgen taucht die Uhr wieder auf, dachte sie, genau wie zu Hause. Er würde sie unter die Frisierkommode schieben oder hinter die Zederntruhe fallen lassen, wo irgendjemand sie beim Aufräumen finden würde.
«Was macht er denn da drin?», fragte Sarah. Sie hatte ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, um sich das Gesicht zu waschen, neben ihrem Ohr ringelte sich eine Strähne, und wieder machte sich Ella bewusst, wie stark Sarah war, wie weit von ihr entfernt.
Als Sam fertig war, putzten sie sich zusammen die Zähne, drängelten sich am Waschbecken und stießen sich zum Scherz mit den Ellbogen. Es war bloß Theater. Bei jeder Berührung schauderte es Ella, als würde sie lügen. Sie konnte von Glück sagen, dass sie so mit ihr zusammen sein konnte. Sie musste es jetzt genießen.
«Hier», sagte Sarah, «probier mal», und reichte ihr eine Tube Pfefferminz-Reinigungscreme.
Ella rieb sich das Gesicht damit ein und wusch es ab, ihre Wangen fest und kribbelnd. Wenn sie zu Hause allein war und ihr Gesicht im Spiegel betrachtete, konnte sie sich etwas vormachen, aber mit Sarah direkt neben ihr musste sie sich die Wahrheit eingestehen. Sie würde nie schön sein, nicht auf diese Art. Niemand würde je so an sie denken, wie sie an Sarah dachte.
«Das ist meine Lieblingscreme», sagte Sarah und drückte einen rosa Klecks auf Ellas Hand. «Sie heißt Strawberry Smooth.»
Ella sah zu, wie sie die Creme in ihre Wangen rieb, tat es ihr dann nach und verrubbelte den Rest auf dem Handrücken. Die Creme war klebrig und roch süß, und obwohl sie und Caitlin sich immer über die Mädchen lustig machten, die Lipgloss mit Bonbonaroma auflegten und den Bus verstänkerten, sagte sie: «Riecht gut.»
Ihre Mutter kam hoch, um sie zu nerven, und deckte Sam und Justin richtig zu. «Hier ist es wie in einem Backofen», sagte sie zu niemand Bestimmtem und versuchte, das Fenster etwas höher zu schieben, aber es klemmte, das hatte ihr Vater schon tausendmal probiert.
Sie und Sarah lagen auf ihren Schlafsäcken. Ella musste zum Lesen die Brille absetzen und wusste, dass sie schieläugig und doof aussah.
«Um zehn Uhr ist das Licht aus», drohte ihre Mutter und ging dann endlich.
Ella wollte sich unterhalten, aber Sarah hatte nur noch wenige Seiten in ihrem Buch. Ella hatte an ihrem das Interesse verloren, als der Wahrsager die Königin vor der bevorstehenden Schlacht zwischen Gut und Böse gewarnt hatte. Diese Bücher waren alle gleich. Am Schluss geschah irgendein Wunder, und alle bekamen, was sie sich wünschten. Was für ein Schwindel.
Die Jungs machten Lärm und raschelten mit der glatten Außenhaut ihrer Schlafsäcke. Ella sagte ihnen zweimal, dass sie still sein sollten.
«Hör auf», sagte Justin.
«Sam», warnte Ella.
«Uuuh, da krieg ich ja Angst.»
Sie dachte schon, sie müsste aufstehen, aber ein paar Minuten später schliefen die beiden pfeifend. Ella sah Sarah an, um ihr zu zeigen, dass sie ungestört waren.
Sarahs Augen waren
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