Abschied von Chautauqua
Holz des Stegs roch heiß und trocken. Eine blaue Libelle landete auf dem Pfahl neben ihm, flog dann im Zickzack davon, die Sonne in ihren Flügeln. Drüben beim Glockenturm sah er viele kleine Segelboote. In der Mitte fuhren Motorboote kreuz und quer über den See und machten einen Lärm wie Stockcars. Rufus wollte sich nicht hinsetzen, und jedes Mal, wenn er Sam folgte, bebte der ganze Steg.
«Tut mir Leid», sagte seine Mutter. «Wenn du keine Lust hast, ins Wasser zu gehen, ist das in Ordnung. Niemand sollte dich zu etwas zwingen, das du nicht tun willst.»
Er wälzte sich weder auf die andere Seite, noch drehte er den Kopf um, er lag bloß da und wusste, dass sie ihn ansah und darauf wartete, dass er sagte, es wäre okay. Aber das würde er nicht tun. Schweigen war gegen sie seine einzige Waffe.
Sam und die Mädchen bespritzten sich gegenseitig mit Wasser, und Ella kreischte: «Spritz ihn voll!» Rufus bellte und wollte mitmachen.
«Kann ich jetzt den Ball für ihn werfen?», fragte Justin.
«Noch nicht», erwiderte seine Mutter. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. «In einer halben Stunde.»
«Wie spät ist es?», fragte er, und seufzend sagte sie es ihm.
Wenn ich bei meinem Vater leben würde, dachte er, wäre alles anders. Sein Vater ergriff genauso Partei für ihn, wie seine Mutter es immer für Sarah tat. Und er war wie sein Vater. Sein Vater blieb gern zu Hause und faulenzte; seine Mutter ging gern weg und unternahm was. Sein Vater sah sich mit ihm Die Simpsons an; seine Mutter fand die Sendung unflätig. Justin hielt es nur für sinnvoll, dass Sarah bei ihrer Mutter und er bei seinem Vater lebte. Wenn sie seinen Vater besuchten, fragte der nie, ob ihm das gefallen würde, doch Justin wusste, dass sein Vater diese Frage irgendwann stellen würde. Und Justin würde ja sagen.
Er war sicher, dass die halbe Stunde vorbei war, als Rufus aufsprang und davonlief und der Steg heftig bebte.
«Sieh mal, wer da kommt», rief seine Mutter, denn es waren Onkel Ken und Tante Lisa in ihrem Badezeug, und sie hatten den Schlauch dabei. Sie legten ihn neben dem Motorboot ab, und Onkel Ken machte die Plane los.
«Wer hat Lust auf Tubing? », fragte Tante Lisa; alle platschten auf die Leiter zu. Rufus wartete schwanzwedelnd oben auf dem Steg.
«Ist die halbe Stunde schon vorbei?», fragte Justin.
«Du willst den Ball wirklich werfen», sagte seine Mutter, nur halb im Scherz, als könnte er es sich anders überlegt haben. Sie gab ihn ihm. «Bloß ein einziges Mal.»
Er zeigte den Ball Rufus, der neben ihm herumsprang. In der Turnhalle äfften die anderen ihn beim Werfen nach, um sich über ihn lustig zu machen, deshalb warf er den Ball von unten, und Rufus sprang hinterher. Rufus war so nah dran, dass er sich mit gefletschten Zähnen draufstürzte, doch er schluckte bloß Wasser und kam prustend wieder hoch. «Er hätte ihn fast gefangen!», brüllte Justin und deutete aufs Wasser, aber Sarah, Ella und Sam trockneten sich ab, und seine Mutter half Tante Lisa bei der Bootsplane. Rufus schwamm ans Ufer. Im Boot hielt Onkel Ken inne, um zu beobachten, wie er vorbeipaddelte. «Braver Junge!», rief Justin, aber Onkel Ken sah ihn nicht an.
Während sie darauf warteten, dass Onkel Ken sie ins Boot ließ, kam Rufus mit dem Ball auf den Steg gelaufen. Er wirkte nicht müde. «Aus », sagte seine Mutter und nahm Rufus den Ball weg. «Das reicht.»
«Okay», rief Onkel Ken, «schnappt euch alle eine Schwimmweste.»
Justin hielt sich im Hintergrund und dachte, sie hätten vielleicht nicht genug Schwimmwesten da, aber dann warf ihm Tante Lisa eine zu. Seine Mutter hatte keine, und er wollte ihr seine geben.
«Die gehört dir», sagte sie. «Ich bleib hier und lese mein Buch.»
Er hielt die Schwimmweste in der Hand und wusste nicht genau, was er tun sollte. Sie sah ihn abwartend an, und als er ihren Blick erwiderte, in der Hoffnung, sie würde ihn retten, seufzte sie, als wäre sie wütend auf ihn.
«Ich will nicht mitfahren», sagte er leise und hoffte, dass ihn sonst niemand hören konnte.
«Nicht schon wieder. Wo liegt das Problem?» Das sagte sie so laut, dass Sarah und Tante Lisa rüberschauten und dann den Blick abwandten. «Ich begreife nicht, woher das alles kommt. Kannst du's mir sagen?»
«Ich hab einfach keine Lust.»
«Das reicht nicht. Deshalb sind wir doch hier. Wenn du nicht ins Wasser willst, hätten wir auch zu Hause
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