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Abschied von Chautauqua

Titel: Abschied von Chautauqua Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stewart O'Nan
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welch herzloser Gedanke, Emily fragte sich, warum sich Margaret ausgerechnet jetzt Sorgen darüber machte, wie Emily reagieren würde. Emily hatte nie ein strenges Urteil über sie gefällt, egal, wie Margaret darüber dachte.
      «Ich finde es traurig», sagte sie. «Und ich will helfen.»
      «Danke. Ich weiß, dass du enttäuscht sein musst.»
      «Warum?»
      «Weil deine Tochter geschieden ist.»
      «Ich bin nicht enttäuscht», widersprach Emily. «Ich mache mir bloß Gedanken um dich und die Kinder, das ist alles. Ich glaube, dass du das Richtige tust.»
      Etwas piepte beharrlich - Margarets Armbanduhr. Margaret drückte auf einen Knopf. «Wirklich?»
      «Ich kenne nicht alle Einzelheiten - das ist auch nicht nötig -, ja, doch. Ich glaube, du weißt, was du tust.»
      «Moment, das würde ich gern auf Band aufnehmen.»
      «Ich meine es ernst. Vielleicht bin ich mit deinem Verhalten manchmal nicht einverstanden, aber ich versuche, deine Meinung zu respektieren.»
      «So wie du respektiert hast, dass Ken nochmal studiert.»
      «Das war etwas anderes. Ich bin mir sicher, dass du alles durchdacht hast.»
      «Hab ich aber nicht. Woher soll ich wissen, wie alles sein wird? Ich hab kaum noch den Überblick über das, was von einem Tag auf den anderen passiert.»
      «Aber», sagte Emily und suchte nach den richtigen Worten, «ich weiß, dass du das bloß tun würdest, wenn du es für absolut notwendig hältst. Ich glaube, das ist der Unterschied zwischen dir und Kenneth. Ich will nicht sagen, dass er verantwortungslos ist. Er ist in einer ganz anderen Lage. Er hatte jede Menge Möglichkeiten, auch die Möglichkeit, gar nichts zu tun, was meiner Ansicht nach vielleicht das Richtige gewesen wäre. Dir ist keine Wahl geblieben, oder das hast du zumindest geglaubt. Und ich denke, du hast die richtige Entscheidung getroffen. So, hast du das auf Band aufgenommen?«
      «Es gab keine Wahlmöglichkeit», sagte Margaret. «Wenigstens nicht für mich. Alles läuft genauso, wie Jeff es will. Das macht mich so wütend.»
      Dabei konnte Emily ihr nicht helfen, sie nickte bloß zu der Litanei von Treuebrüchen. Sie hatte erlebt, wie Margaret ihm vor anderen zugesetzt hatte und wie geduldig er mit ihr gewesen war. Vielleicht hatte Emily ihn falsch eingeschätzt, und seine Geduld war in Wirklichkeit Langeweile oder Distanz gewesen, eine betäubende Mischung aus beidem. Wenn er mit den Kindern gespielt oder mit Henry rumgealbert hatte, war er ungestüm und laut gewesen, doch in Margarets Beisein wurde er sanftmütig, unsichtbar, schien auf eine Fluchtmöglichkeit zu warten.
      Emily hatte dieses unterschiedliche Verhalten schon Vor Jahren an ihm bemerkt. Anscheinend war es Margaret entgangen, da sie blind war für ihre eigene Aggressivität und Herrschsucht. In diesem Moment gab es für Emily keinen Grund, sie darüber aufzuklären. Es genügte, ihr zuzuhören.
      «Danke», sagte Margaret noch einmal, und sie standen auf und umarmten sich.
      «Wenn wir um sechs essen wollen, hole ich jetzt besser das Gemüse und den Dip aus dem Kühlschrank.»
      «Ich muss mit den Jungs reden.»
      «Ich finde das Ganze mutig von dir», sagte Emily. «Wenn du irgendetwas brauchst...»
      «Danke», wiederholte Margaret.
      In der Küche hockte eine Fliege auf dem Stück Käse, das sie vergessen hatte wegzuräumen. Reha, dachte Emily. Alkoholikerin. Sie stellte ihr leeres Glas ab, wickelte den Käse in Plastikfolie und legte ihn in den Kühlschrank. Rufus' Futter stand unangetastet da, und sie fragte sich, wo die Mädchen wohl waren. Die Scotchflasche stand auf dem Hackbrett. Das Gespräch hatte sie nüchtern gemacht, hinter ihrem Auge begannen sich Kopfschmerzen einzunisten. Sie stellte die Flasche in den Schrank zurück und schüttete die Eiswürfel ins Spülbecken. Die Fliege war zum Wasserhahn geflogen, spazierte darauf entlang wie auf einem Sprungbrett. Emily wedelte mit der Hand, und die Fliege flog davon.
      Geschieden, mit zwei schulpflichtigen Kindern. Justin war erst zehn.
      Was für ein Schlamassel.
      Das war kein Urteil, nur eine Feststellung der Tatsachen. Ein Ausdruck von Traurigkeit. Und wahrscheinlich teilweise ihre Schuld. Sie war nicht blind. Margaret hatte ihre schlimmsten Eigenschaften geerbt, ihre Ungeduld und ihren unerklärlichen Jähzorn. Von Anfang an hatte Margaret Henry vor ein Rätsel gestellt, und er hatte sich zurückgezogen. Emily hatte Tag für Tag mit

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