Abschied von der Küchenpsychologie
wie Intelligenz, so ein Wort, das jeder kennt, das aber zumindest in der Alltagssprache keine eindeutige Bedeutung hat. Die Bemerkung «Oh, was hatte ich heute wieder einen Stress!» meint gewöhnlich
Ereignisse
, z.B. Streit mit dem Chef, Termindruck, Misserfolge, Pannen. Doch in der Aussage «Nach Feierabend muss ich erst mal Stress abbauen» ist mit Stress offenkundig etwas anderes gemeint, nämlich ein
Empfinden
: ein angespannter emotionaler und körperlicher Zustand. Solche Mehrdeutigkeiten wären unwichtig, wenn alles zu einem einzigen Phänomen verschmolzen wäre, wenn also der objektive Stress (Ereignis) automatisch mit dem subjektiven Stress (Empfinden) gekoppelt wäre. Aber ist das wirklich so?
Stressgeschehen: Ein Reiz-Reaktions-Mechanismus?
Nach populären Vorstellungen sind die Stressreaktionen tatsächlich eine direkte Folge des äußeren Stress-Ereignisses, in der Fachsprache Stressor genannt:
Stressor → Stressreaktionen (affektiv und körperlich)
Erleben kann man dabei die affektive Erregung und Spannung sowie ein Gefühl der Überforderung, aber auch den Anstieg von Herzschlag, Atmung, Körpertemperatur, Schweißproduktion usw. Nicht erlebbar sind die biologischen Vorgänge «dahinter», unter anderem die Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Kortisol. Der biologische Sinn dieser sog. Alarmreaktion ist es, dem Körper Energie zu liefern für zwei elementare Formen der Stressbewältigung: Kampf oder Flucht. (Dass die meisten Stressoren, denen heutige Menschen ausgesetzt sind, besser auf anderen Wegen zu bewältigen sind, kommt noch zur Sprache; s.S. 163 ). Falls das Bemühen um die Stressor-Bewältigung fehlschlägt und die Reserven schwinden, kommt es schließlich zur Erschöpfung. Die drei Phasen Alarmreaktion – Widerstand – Erschöpfung bilden zusammen das «allgemeine Adaptationssyndrom» (nach Hans Selye, dem Pionier der Stressforschung).
Nun stellt sich aber die Frage, ob das körperlich-emotionale Geschehen wirklich unmittelbar durch einen Stressor ausgelöst wird. Führen beispielsweise ein Ehekrach, eine kritische Bemerkung, eine Panne oder Termindruck automatisch zu diesen Reaktionen? So einfach kann es nicht sein! Sonst müsste ein bestimmtes Ereignis bei allen Menschen die gleichen Reaktionen auslösen – was ja nicht zutrifft. Auch wird vielleicht derselbe Mensch von manchen Stressoren alarmiert (z.B. einen Vortrag halten), von anderen hingegen gar nicht (z.B. vor Publikum Theater spielen).
Was steckt hinter diesen Unterschieden? Nach einer viel zitierten Theorie von Richard Lazarus sind dabei zwei Bewertungsprozesse («appraisals») im Spiel:
Primäre Bewertung: Die
Situationsbewertung
. Wird die Situation als bedrohlich, schädlich oder übermäßig dringlich bewertet, fördert dies Stressreaktionen, nicht hingegen, wenn sie als harmlos oder belanglos bewertet wird. Sollte sie als spannend, als reizvoll, als interessante Herausforderung bewertet werden, ist sogar eine positive, eine Schwung verleihende Anspannung zu erwarten (sog. Eustress = «schöner» Stress).
Sekundäre Bewertung: Die
Selbstbewertung
, genauer: die Einschätzung der Bewältigungschancen. Habe ich genügend Kompetenzen für diese Anforderung? Traue ich mir zu, das zu schaffen? Oder auch: Kann ich mit Hilfe und Unterstützung rechnen?
Stress wird erlebt, wenn subjektiv ein
Ungleichgewicht zwischen den beiden Bewertungen
besteht, wenn also die Situation als bedeutsam und als schwierig oder bedrohlich eingeschätzt wird, die eigenen Handlungsmöglichkeiten dagegen als gering. Nur dann kommt es zu den affektiven und körperlichen Stressreaktionen.
Das Reiz-Reaktions-Modell wäre also so abzuwandeln, dass die beiden Bewertungsprozesse dazwischengeschoben werden. Doch es kommt noch etwas hinzu: Menschen
tun
etwas, um die Stress-Situation, aber auch die eigene Anspannung zu
bewältigen
. Beispielsweise erhöhen sie ihre Anstrengungen oder sie denken erst mal nach oder sie nehmen eine Beruhigungstablette. Diese Handlungen wirken wieder zurück: Sie verändern die Stress-Situation, die Bewertungen und den eigenen Zustand. Das Schema in der Tafel fasst dies zusammen. Ganz anders als bei der Reiz-Reaktions-Vorstellung handelt es sich nach diesem Modell also um ein Geschehen, an dem die Person mit ihrem Denken und Handeln aktiv beteiligt ist – und hier liegen auch Ansatzpunkte für den Umgang mit Stress.
Alle diese Prozesse und nicht nur die Existenz von Stressoren sind
Weitere Kostenlose Bücher