Abschied von Eden
war ein typischer Erstgeborener – frühreif und äußerst aufgeweckt. Er war seines Vaters ein und alles gewesen, hatte Rina ihm mal erzählt. Der Tod seines Vaters hatte ihn schwer getroffen, und seitdem hatte er immer Angst, jemanden zu verlieren, den er liebte.
Rina kam wieder an den Apparat.
»Sie sind sauer, weil ich sie nicht mit nach Hause nehme«, sagte sie. »Besonders Shmuli.«
»Das hab’ ich gemerkt«, sagte Decker.
»Sie vermissen Los Angeles. Sie vermissen dich. Ich vermisse dich auch.«
»Dann komm doch nach Hause!«
Schweigen am anderen Ende.
»Bist du noch da?« fragte Decker.
»Ich bin noch da«, sagte sie. »Wir haben viel zu bereden. Wie läuft dein Unterricht bei Rav Schulman?«
»Gut.«
»Was besprecht ihr gerade – o verflixt! Es hat an der Tür geklingelt. Das ist vermutlich meine Schwägerin. Ich hab’ keinen Scheitel auf, und Esther wird mich anbrüllen, wenn ich mit unbedeckten Haaren die Tür öffne.«
»Sag ihr, sie soll dich mal …«
»Peter.«
»Sie mag mich nicht, also muß ich sie auch nicht mögen.«
»Esther ist nicht das Problem, sie allerdings hat Probleme. Du lieber Gott, mir war nie klar, was für Probleme. Leider sind das jetzt auch meine Probleme und – jetzt hämmert sie gegen die Tür. Jeden Augenblick wird einer der Nachbarn den Kopf in den Flur stecken und fragen, was los ist. Das sind vielleicht winzige Wohnungen hier. Ich komm’ mir vor wie eine Laborratte. Es ist alles ein ziemlicher Schlamassel. Ich muß jetzt Schluß machen.«
»Warte. Häng mich nicht einfach so ab.«
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Ich liebe dich auch.«
Decker dröhnte der Kopf. Er streckte sich, dann tat er Futter in den Hundenapf. Aus der Schublade in der Küche holte er ein Röhrchen Aspirin. Er spülte zwei Tabletten mit einem Dos Equis hinunter und sah auf die Uhr. Viertel nach sechs – es war immer noch hell genug, um den Pferden Auslauf zu verschaffen. Die Temperatur war auf angenehme siebenundzwanzig Grad gefallen. Eine Stunde mit den Tieren, eine Stunde lernen und ein paar Stunden Schlaf, dann ein Rendezvous mit den Kollegen von Abteilung sechs jenseits der Berge. Es lebe Hollywood.
6
Das Revier Hollywood war in einem klobigen, fensterlosen Backsteingebäude untergebracht. Vor dem Gebäude standen auf einem rechteckigen Stück Erde drei Monterey-Kiefern. Gegenüber befand sich das unvermeidliche billige Motel – wo Frauen übernachten konnten, wenn ihre Männer im Gefängnis saßen – und zwei Kautionsbüros, die ihre Türen nie schlossen.
Decker stieg die Treppe hinauf und betrat den Aufnahmebereich, dessen Backsteinwände gelb verputzt waren. Der Schreibtisch des diensthabenden Beamten war neonorange. Der Boden war mit uralten gelblichen Fliesen ausgelegt, deren Fugen ein dauerhaftes Schwarz angenommen hatten. In der Mitte des Raums war in die Fliesen ein Stern aus rot-schwarzem Granit wie auf dem Hollywood Boulevard eingelassen, auf dem in Messingbuchstaben LAPD HOLLYWOOD STATION #6 stand. Ein Drogensüchtiger lehnte gegen einen Cola-Automaten, trat von einem Fuß auf den anderen und versuchte mühsam, das Gleichgewicht zu halten. Etwas abseits stand ein dicker Mann mit einem Kaffeebecher in der Hand an der Wand und verglich die Zeit auf seiner Uhr mit der Uhr der Polizeiwache. Zwei schwarze junge Mädchen in Shorts und Tops saßen auf der angebrachten Bank im hinteren Teil des Raums und spielten an ihren dünnen, eng geflochtenen Zöpfchen herum. Beide starrten mit leicht geöffneten Lippen auf den Stern, als ob er für unzählige gescheiterte Träume stehen würde.
Decker zeigte dem wachhabenden Sergeanten seine goldene Dienstmarke und ging zur Einsatzleitung für die Detectives. Der Mann, der die Telefone bediente, hatte einen bizarr geformten Tintenfleck auf seiner Hemdtasche. Seine Haare waren schütter, und er brauchte dringend eine Rasur.
»Decker aus Foothill«, sagte Decker. »Ich würd’ gern George Andrick sprechen.« Er zeigte dem Detective seine Marke.
»Mein Name ist Rados«, sagte dieser und warf einen Blick auf die Tafel mit dem Dienstplan. »Andrick bearbeitet Raubüberfälle. Er ist gerade unterwegs. Sollte aber bald zurück sein.«
»Dann hol’ ich mir ’nen Kaffee und warte an seinem Schreibtisch.«
Rados reichte Decker einen unbenutzten Styroporbecher. »Bedienen Sie sich von der Brühe aus der Maschine da hinten.«
»Danke.«
Mit dem Becher in der Hand betrat Decker das Dienstzimmer. Es war größer als in Foothill, mit
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