Abschied von Eden
Küchentür auf und steuerte auf das Schlafzimmer zu.
Am frühen Abend waren es noch knapp dreißig Grad. Der Himmel glänzte silbrig und war von einem rost- und lavendelfarbenen Streifen gesäumt. Die Sonne war eine orangeglühende Scheibe, die rasch hinter den runden Bergkuppen verschwand. Decker holte einen braunen Hengst namens Bear to the Left aus dem Stall und ritt an den Gebirgsausläufern entlang, durch graugrünes Buschwerk, heufarbenes Gras und dorniges Gestrüpp. Wild wachsende Blumen bedeckten die wellige Landschaft wie ein Teppich – orangefarbener Goldmohn, weißes und blaues Steinkraut und kleine weiße Gänseblümchen.
Decker kannte den Weg auswendig, hatte aber wegen Rina eine Taschenlampe mitgenommen. Sie saß in seine Arme geschmiegt, ihr Kleid fiel rechts und links über den Sattel. Ihre Augen waren halb geschlossen, die Lippen leicht geöffnet. Sie war noch wunderbarer gewesen, als er sie in Erinnerung hatte – sanft und sinnlich aber gleichzeitig distanziert und beunruhigt. Decker wußte, daß sie sich nie ganz gehenlassen würde, bis sie verheiratet waren. Rina konnte die religiöse Überzeugung nicht von sich abschütteln, daß Sex außerhalb der Ehe schlecht war. Trotzdem war sie freiwillig zu ihm gekommen …
Eine halbe Stunde lang ritten sie schweigend, bis die Grillen anfingen zu zirpen und die dumpfen Schreie von Waldtieren durch die Luft hallten. Eine bleiche Mondscheibe sah hinter den Bergen hervor.
»Ist das schön«, sagte Rina.
»Ich sollte mir mehr Freizeit gönnen«, sagte Decker. »Du hast einen positiven Einfluß auf mich. Ich bin gelassener. Wenn du nicht hier wärst, würde ich arbeiten.«
»Ich kann gar nicht glauben, daß ich mich gestern noch mit der U-Bahn herumgeschlagen habe.«
»Wann wirst du mir denn endlich sagen, was dich quält?«
»Verdirb uns nicht diesen Augenblick.«
»Hör mit dieser Verzögerungstaktik auf.«
Rina seufzte. »Es geht um meinen Schwager.«
»Welchen?«
»Pessy. Den Mann von Esther. Dem die Pelzfabrik gehört.«
»Für den du die Buchführung machst«, sagte Decker.
»Ja.«
»Er ist zudringlich geworden«, sagte Decker.
Rina richtete sich im Sattel auf. »Woher weißt du das?«
»Und du bist schockiert. Besonders weil er frum ist.«
Sie ließ sich gegen ihn fallen. »Offenbar überrascht dich das nicht.«
»Was hat er dir getan?«
»O Gott …«
»Was hat er getan?«
»Vor ein paar Wochen hat er mich in eine Ecke gedrängt.«
»Und …«
»Er hat sich danebenbenommen«, stöhnte Rina.
»Inwiefern? Einzelheiten.«
»Hör auf, den Detective herauszukehren.«
Decker lachte. »Hat er dich geküßt?«
»Ja.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich war so geschockt, daß ich gar nichts gemacht hab’.«
»Geschickter Schachzug, Lazarus. Hat er dich befummelt?«
»Peter, müssen wir das in allen Details erörtern?«
Decker wurde ernst. »Ist er brutal geworden?«
»Nein«, sagte Rina. »Nein, das nicht. Sobald ich mich von meinem Schock erholt hatte, bin ich rausgelaufen, und er hat nicht versucht, mich aufzuhalten. O Peter, wie konnte er das nur tun? Seine Frau hintergehen und mich auch. Was ist nur in ihn gefahren?«
»Er ist geil und hat sich schlecht unter Kontrolle.«
»Aber er trägt einen Gartel , um Himmels willen!«
»Was ist ein Gartel ?«
»Eine Art Schärpe, den die Chassidim tragen, um die reinen von den unreinen Teilen ihres Körpers zu trennen. Dieser Mann führt immer das Kol Nidre beim Jom Kippur an. Kannst du dir eine solche Heuchelei vorstellen?«
»Offenbar hat er viel zu bereuen«, sagte Decker. »Belästigt er dich immer noch?«
Rina seufzte. »Nun ja, er hat mich zwar nicht noch mal in eine Ecke gedrängt, aber er hat andere Sachen gemacht.«
»Zum Beispiel?«
»Peter, er geht in Massagesalons.«
»Woher weißt du das?«
»Er gibt mir die Quittungen und sagt, ich soll sie als Geschäftskosten absetzen.«
Decker fing schallend an zu lachen.
»Was ist denn daran so lustig?« fragte Rina.
»Verzeih mir bitte, aber so dreist kann nur ein Jude sein.«
»Das war aber eine äußerst antisemitische Bemerkung!« ereiferte sich Rina. »Auf wessen Seite stehst du eigentlich?«
»Kein Goj auf der Welt hätte die Hutzpe, so etwas zu probieren«, sagte Decker.
» Chu tzpe«, verbesserte Rina seine Aussprache. » Ch, ch . Mit einem Kehllaut. Und ich glaube nicht, daß Gojim weniger Chutzpe haben als Juden.«
»Vielleicht sind wir Nichtjuden einfach nicht so kreativ im Denken.«
»Wir?« fragte Rina.
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