Abseitsfalle. Kadir Bülbüls zweiter Fall
sitze ich hier schon auf dem Balkon? Sie hob
die Arme über den Kopf und reckte sich, hörte ein Knirschen im Nacken und
seufzte. Dann schloss sie die Internetseiten, in denen sie seit über einer
Stunde gelesen hatte, eine nach der anderen und ließ ihre Blicke noch einmal
amüsiert und verächtlich über die Überschriften gleiten. Der Tod von Hakan
Hunsfos beherrschte die Nachrichten, und man erging sich in Spekulationen, was
dort im Trainingslager des SV Bütte-Erkenroytz geschehen war, egal ob Boulevard
oder seriöses Online Magazin, regionale oder internationale Presse. Am späten
Nachmittag hatte Eva mit ihrem Chefredakteur gesprochen, und obwohl er erst
protestierte und sofort brandaktuelle News haben wollte, erklärte er sich
schließlich, nachdem Eva alles erklärt hatte, bereit, ihren Beitrag erst am
frühen Morgen einzustellen.
»Stell
dir vor, Hubert, was das für ein Knaller wird! Heute lesen die Leute wieder und
wieder den gleichen Humbug: Die Leiche wurde gegen halb vier aufgefunden, die
genaue Todesursache steht noch nicht fest, der Täter oder die Täter haben sich
einen üblen Scherz erlaubt, indem sie Hakan Hunsfos in den Farben grün-weiß,
den Farben des Erzrivalen, angemalt haben. Was hat dies zu bedeuten und
blablabla? Keiner weiß etwas, Hubert, keiner traut sich die Frage zu stellen,
ob der Täter in der Mannschaft zu suchen ist, weil niemand weiß, was bei den
Jungs so abgeht.«
»Eva,
ich will keine Verleumdungsklagen und keine Promi-Anwälte am Arsch!«
»Nun
lies erst mal meinen Artikel – du wirst sehen, dass man uns nicht drankriegen kann,
aber jede Zeile offenbart, dass wir geheimes Hintergrundwissen haben!«
Eva
rief ihren Artikel noch einmal auf und las. Dann klappte sie mit einem
zufriedenen Seufzer den Laptop zu und angelte nach der Weinflasche, die sie
schon vor Stunden aufgemacht, aber dann beim Schreiben vergessen hatte. Sie
füllte ihr Wasserglas randvoll, ließ sich auf ihrem Klappstuhl hinuntergleiten
und stemmte die Füße gegen die Balkonbrüstung. Der Rotwein wärmte ihren Magen
und Eva nahm noch einen kräftigen Schluck.
Jetzt
würde es endlich wahr werden!
Dieser
Artikel war ihre Eintrittskarte in die Welt, in die sie seit Jahren versuchte
zu gelangen. Schon als kleines Mädchen hatte sie bei ihrer Großmutter die
Stapel an billigen Frauenzeitschriften und bei ihrer Mutter die teuren
Hochglanzmagazine fasziniert durchgearbeitet und hatte ihre Umgebung damit
erstaunt, dass sie sich jede noch so geringfügige Meldung aus noch so
entfernten Königshäusern, jede Wendung im Leben eines längst verschollenen
Hollywoodstars, jede modische Verirrung bei sämtlichen Oscar-Verleihungen des
20. und 21. Jahrhunderts, merken konnte. Sie war ein Almanach des Klatsches,
ein Archiv der Verfehlungen und Liebeswirrnisse des europäischen Adels, und
dennoch hatte ihr dieses Talent bis heute wenig mehr eingebracht als das
amüsierte Lächeln ihrer Mutter und das verächtliche Stirnrunzeln ihres Vaters,
der es lieber gesehen hätte, wenn sie sich zur Abwechslung auch einmal eine
mathematische Gleichung oder eine politische Schlagzeile hätte merken können.
Vom Käseblatt in ihrem Heimatort im trübsinnigsten Teil von Niedersachsen hatte
sie es immerhin über zahllose unbezahlte Praktika und grässliche Volontariate,
in denen sie gefühlte tausend Liter Kaffee gekocht und vor irgendeinem
Schreiberling auf den Tisch gestellt hatte, bis zu einem der bekanntesten
Sportsender geschafft, aber Eva bildete sich nichts darauf ein, da sie immer
noch nicht an dem Platz war, an dem sie sein wollte. Sie wusste, dass man sie
nur nach Dereköy geschickt hatte, weil es durch die Grippewelle an Weihnachten
einen Engpass gegeben hatte, und sie war sich durchaus im Klaren gewesen, dass
sie eine schauderhafte Fußballberichterstatterin abgeben würde. Wie
schauderhaft, hatte sie aber erst kapiert, als sie am Ankunftstag der Bütter
Mannschaft gestammelt und geschwitzt hatte wie eine Schülerpraktikantin. In
diesem Moment hatte sie sich gewünscht, sie hätte ihrem Chefredakteur von Sporttwenty4seven nicht weisgemacht, dass sie in der Welt des Fußballs ebenso zuhause war wie
in den von ihm als Mädchentingeltangel bezeichneten Disziplinen, über die sie
sonst berichtete. Sie druckte sich ein Fußball-Lexikon aus und begann es in der
Nacht vor dem Flug zuversichtlich zu studieren, doch nachdem sie die Absätze zu
Abseits und Abseitsfalle wieder und wieder gelesen hatte, ohne zu verstehen was
man sich
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