Absender unbekannt
zusammen, als ich von der Toilette kam. Ich versuchte, Angie in der Menschenmenge zu finden, und bemerkte Jason deshalb erst, als ich ihn schon angerempelt hatte.
„Suchst du jemanden?“
„Was?“ fragte ich.
Der Schalk blitzte ihm aus den Augen, aber nicht bösartig. Sie leuchteten hellgrün in dem Licht, das von der Bühne herunterfiel. „Ich hab gefragt, ob du jemanden suchst!“ Er zündete sich eine Zigarette an und nahm sie in die Hand, in der er schon ein Scotchglas hielt.
„Ja, meine Freundin“, erklärte ich. „Sorry, ich hab nicht aufgepasst!“ „Kein Problem“, schrie er mir zu, um die langweiligen Gitarrenriffs der Band zu übertönen. „Du sahst nur ‘n bisschen verloren aus. Viel Glück!“
„Wobei?“
„Viel Glück“, schrie er mir ins Ohr, „dass du deine Freundin findest oder so!“
„Danke.“
Ich bahnte mir einen Weg durch die Menge, und er wandte sich wieder Jade zu und sagte ihr etwas ins Ohr, worüber sie lachen musste.
„Zuerst hat’s ja Spaß gemacht“, bemerkte Angie am vierten Tag. „Was?“
„Der Voyeurismus.“
„Sag nichts gegen Voyeurismus. Ohne den gäbe es die amerikanische Kultur nicht.“
„Tu ich ja nicht“, lenkte sie ein, „aber langsam wird es, na ja, langweilig, diesem Jüngelchen dabei zuzugucken, wie er alles bumst, was nicht niet- und nagelfest ist. Verstehst du?“
Ich nickte.
„Sie wirken einsam.“
„Wer?“ fragte ich.
„Sie alle. Jason, Gabrielle, Jade, Lauren.“
„Einsam. Hm. Dann sind sie aber ziemlich gut darin, das vor dem Rest der Welt zu verstecken.“
„Das hast du ja auch ziemlich lange geschafft, Patrick. Du auch.“ „Autsch!“ rief ich.
Am Ende des vierten Tages teilten wir uns die Arbeit. Für jemanden, der so viele Frauen und Bars an einem Tag abklapperte, war Jason sehr diszipliniert. Man konnte fast minutiös vorhersagen, wo er sich zu einem bestimmten Zeitpunkt aufhalten würde. An dem Abend ging ich nach Hause, während Angie sein Zimmer beobachtete.
Sie rief an, als ich mir gerade mein Abendessen machte, und erzählte mir, Jason schien es sich für die Nacht in seinem Zimmer mit Gabrielle gemütlich gemacht zu haben. Angie wollte sich noch ein bisschen Schlaf gönnen und ihm am nächsten Morgen wieder zur Uni folgen.
Nach dem Essen setzte ich mich draußen auf die Veranda und blickte auf die Strasse. Schnell wurde es dunkel und kühl. Die Temperatur sank. Der Mond hing wie /eine Scheibe kalten Eises am Himmel, und die Luft roch wie nach einem abendlichen Footballspiel an der High-School. Über die Strasse wehte eine steife Brise, fegte durch die Bäume und nagte an trockenen Blatträndern. Ich ging gerade herein, als Devin anrief.
„Was ist passiert?“ wollte ich wissen.
„Wie meinst du das?“
„Du rufst doch nicht einfach so an, Dev! Das ist nicht deine Art.“ „Vielleicht ist das meine neue Art.“
„Nee.“
Er grummelte: „Na gut. Wir müssen reden.“
„Warum?“
„Weil auf dem Meeting House Hill gerade ein Mädchen
erledigt wurde, und die hatte keinen Ausweis bei sich, und ich wüsste gerne, wer sie ist.“
„Und was genau hat das mit mir zu tun?“
„Vielleicht nichts. Aber sie hatte deine Visitenkarte in der Hand, als sie starb.“
„Meine Karte?“
„Genau. Meeting House Hill. Wir treffen uns in zehn Minuten.“ Er legte auf. Ich saß da mit dem Hörer am Ohr und legte ihn selbst dann nicht zur Seite, als das Besetztzeichen erklang. Ich saß da, hörte auf den Ton und wartete darauf, dass er mir sagte, das tote Mädchen auf dem Meeting House Hill sei nicht Kara Rider, wartete darauf, dass der Ton mir irgend etwas sagte. Ganz egal was.
9
Als ich am Meeting House Hill ankam, war die Temperatur auf ungefähr null Grad gesunken. Es regte sich nicht der leiseste Windhauch. Die Kälte war durchdringend, sie fuhr mir in die Knochen und ließ mein Blut gefrieren.
Meeting House Hill liegt zwischen meiner Heimat Dorchester und dem Stadtteil Field’s Corner. Der Anstieg des Hügels ist schon am Straßenbelag zu bemerken, die Strassen steigen so stark an, dass ein Auto im dritten Gang bei Glatteis schon mal rückwärts fährt. Oben auf der höchsten Stelle von Meeting House Hill, wo mehrere Strassen aufeinander treffen, bricht die Spitze des Hügels durch das Netz von Zement und Teer und bildet eine armselige Grünfläche inmitten einer derart heruntergekommenen Siedlung, dass es niemandem auffallen würde, wenn dort eine Bombe einschlüge, es sei denn, es würde eine Kneipe oder eine Ausgabestelle von
Weitere Kostenlose Bücher