Absolution - Roman
dem das Unmögliche alltäglich ist. Jedes Mal weckt Marie mich aus einem tiefen Schlaf, in dem ich einen Traum hatte – diese anderen, vorausgehenden Träume sind das Einzige, was sich ändert, und sie sind fast immer banal: Kühe auf einer Wiese, ich auf der Farm als Kind oder in einem Boot vor Port Alfred – aus der Dunkelheit heraufbeschworene Erinnerungen. In dem sich wiederholenden Traumteil ist es immer halb sieben, wenn Marie mich weckt, und sie sagt: Sie müssen sich fertig machen, Sie müssen ins Studio . Ich produziere ein Hörbuch meines neuen Buches, lese meinen Text selbst. Das lässt die Träume so real erscheinen, weil ich gerade in dieser Woche, in meinem wachen Leben, dabei bin, das neue Buch Absolution, einen Band fiktionalisierter Memoiren, aufzunehmen (obwohl es überhaupt nicht die Memoiren sind, die der Verlag eigentlich haben wollte, daher die offizielle Biografie). Im Traum danke ich Marie, gehe mich duschen, trockne mich ab, alles sehr bedächtig. Ich wähle schwarze lange Hosen und eine schwarze Hemdbluse, binde mein Haar mit einer schwarzen Satinschleife zurück und verteile Feuchtigkeitscreme im Gesicht – die stets gleichen Handlungen in jedem Traum, in gleicher Reihenfolge. Marie hat mir ein leichtes Frühstück bereitet – keine Zitrone, keine Milchprodukte, nichts, was die Stimmbänder beeinträchtigen oder reizen könnte. Heißer Tee, ein weiches Brötchen mit Honig. Im Auto teilt mir Marie mit, dass das der letzte Aufnahmetag ist und wir danach zur üblichen Routine zurückkehren können, dem täglichen Einerlei, das uns glücklich sein lässt. Ich erinnere sie an die Anwesenheit meines Biografen, erinnere sie daran, dass er womöglich noch auf Monate hinaus täglich kommen wird, außer wenn ich ihm, wie in dieser Woche (und in der gerade in der Realität stattfindenden Woche), mitteile, dass ich mit anderem beschäftigt bin und wir nach einer zehntägigen Pause fortfahren werden. (Ich weiß, dass es grausam ist, wie ich mit ihm spiele, sowohl in Träumen als auch in der Realität. Er weiß nichts über den tatsächlichen Inhalt dieses in Kürze erscheinenden Buches. Es ist mit einer Pressesperre belegt.)
Wir kommen beim tristen Gebäude aus Glas und Metall an, in dem sich das Studio befindet. Eine junge Frau, die meinen Namen stets falsch ausspricht, begrüßt uns beim Empfang herzlich und geleitet uns nach oben. Im Traum setze ich mich an einen Tisch im Studio und das Produktionsteam lächelt mir durch das Fenster der Kontrollkabine zu. Sie winken mir zu … winken herzlich , denke ich, herzlich, weil du , Laura, unter ihnen bist. Nicht nur unter ihnen, sondern der Boss, die Aufnahmeleiterin, diejenige, die das Sagen hat . Du beugst dich zum Mikrofon vor und sagst mir, ich solle sie einfach wissen lassen, wann ich bereit bin und sie mit der Aufnahme beginnen können. Du lässt dir nicht anmerken, ob du in mir etwas anderes als die Schriftstellerin erkennst, die semiberühmte Persönlichkeit, die auf beinah jeder Straße in diesem Land flanieren kann, ohne erkannt zu werden, die nur auf dem Campus einiger weniger Universitäten bemerkt wird und selbst dort bloß von einer Handvoll Studenten und Professoren. Im Ausland ist das anders. Im Traum erweckst du den Anschein, als wäre dir unsere familiäre Bindung nicht bewusst – oder als wolltest du sie verbergen, und ich sitze verstört dort. Warum solltest du so liebenswürdig, doch so distanziert sein? Handelt es sich um Unkenntnis? Bist du nicht die Tochter, die du zu sein scheinst, sondern ihre Doppelgängerin? Oder schämst du dich für mich und möchtest, dass deine Kolleginnen nicht wissen, dass du die Tochter dieses Monsters bist, das vor ihnen sitzt und ins Mikrofon lesen soll, wobei alle Stimmen in ihrem Kopf sich zu einem einzigen Wutschrei zusammenballen, denn da ist so viel Wut in den Seiten dieses Buches (sowohl des realen als auch des geträumten Buches, obwohl es verschiedene Texte sind, die verschiedene Geschichten erzählen), dass ich im Traum (wie auch während der echten Aufnahmen diese Woche) Erinnerungen an vorangegangene Aufnahmen habe (Traumerinnerungen an reale Aufnahmen, vermute ich), bei denen ich so weit gekommen bin, zu schreien, zu kreischen und unter Tränen zusammenzubrechen. Meinem kultivierten New Yorker Verleger wird das nicht gefallen. Mit seiner affektierten Stimme hat er sich Spannung und Dramatik bei meinem Vortrag erbeten, aber kontrolliert, reguliert, angepasst an die Hörgewohnheiten und
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