Absolution - Roman
nötig sei, da die Familie des Ehemanns sich am anderen Ende des Landes aufhalte und nicht vor morgen eintreffen würde. Eine amtliche Bestätigung wurde gebraucht. Sie waren in ihrer Pension ermordet worden.
Clare hatte Mann und Sohn zu Hause zurückgelassen und war mit der Polizei in einem Dienstwagen zum Krankenhaus gefahren. Sie hatte erwartet, dass sie schockiert sein würde, als das Tuch weggezogen wurde, um ein Viertelgesicht freizugeben, es war gerade genug übrig, um zweifelsfrei ihre Schwester zu sein: der Schönheitsfleck unter den Lippen, die noch im Tod aufgeworfen waren, als hätte ihre eigene Ermordung bei ihr nichts als Missbilligung ausgelöst. Die Polizisten, die mit ihr dort waren, hatten den Atem angehalten, als erwarteten sie, dass Clare sich über ihre Schwester werfen und ihre Trauer mit Blut stillen würde, doch sie hatte nur knapp genickt und mit ihrer kühlen Stimme gesagt: Ja, das ist meine Schwester, lassen Sie mich nun meinen Schwager sehen.
Nachdem sie die beiden Toten identifiziert hatte, brachten die Polizisten Clare in ein Wartezimmer mit Reihen orangefarbener Plastikstühle, die alle nach der Tür ausgerichtet waren. Dort saß sie dann allein und kontrollierte ihren Puls. Die Polizisten hatten ihr die Betreuung durch eine Krankenschwester angeboten, doch sie schüttelte den Kopf, legte zwei Finger an den Hals und heftete den Blick auf den roten Sekundenzeiger der Uhr an der Wand, zählte achtzig Schläge pro Minute, neunzig, langsame Atemzüge, wieder fünfundsiebzig, herunter auf siebzig. Wie lange hatte sie dort allein mit dem Blick auf die Uhr an der Wand und die Tür darunter gesessen und gewartet? Bloß Sekunden waren erkennbar, jede Sekunde zählte Pulsschläge und nach vielleicht fünfzehntausend dieser Sekunden waren ihre Eltern in der Tür erschienen wie zwei graue Denkmale. Ihr Vater hatte ein Oppositionsabzeichen anstecken, erinnerte sie sich.
»Willst du sie herausfordern?«, hatte sie gezischt.
»Was?«
»Das Abzeichen.«
»Abzeichen? Oh. Nein, Liebes. Das war am Mantel. Der erste, der mir in die Finger kam. Ich habe nicht dran gedacht.«
»Lass es mich abmachen, Papa.«
»Es wird keinen kümmern. Ich bin ein alter Mann. Ich bin nicht mehr wichtig.«
Nachdem sie die ganze Nacht von der Polizei befragt worden waren, hatten Clare und ihre Eltern das Krankenhaus am nächsten Morgen verlassen. Die für Mordfälle zuständigen Pressefotografen hatten das Abzeichen am Revers ihres Vaters eingefangen. Als die Fotos in allen Zeitungen erschienen, glaubte das ganze Land, Christopher Boyce habe sogar in der Todesstunde seiner Tochter einen Protestakt inszeniert.
Das Begräbnis, eine andere Art des Wartens, war aus mehreren Gründen unangenehm gewesen. Clare erfuhr später, dass vor ihrer Ankunft eine Menschenmenge mit Tränengas und Schlagstöcken auseinandergetrieben worden war, dass etliche Personen in Handschellen abgeführt worden und zwei davon später in der Haft gestorben waren. Schlimmer noch, sie und ihre Eltern mussten Seite an Seite mit der Pretorius-Familie dastehen, die sich schon geweigert hatte, ihnen die Papiere und persönlichen Sachen ihrer Schwester auszuhändigen. Sie sangen Kirchenlieder, die der Boyce-Familie fremd waren, deren eigene Vorschläge für den Gottesdienst missachtet und als zu weltlich, nicht christlich genug eingeschätzt worden waren. »Das ist kein Zirkus hier«, hatte ihnen der Vater ihres Schwagers bedeutet. Während der Pfarrer die Trauergemeinde über die Sünden des Menschen belehrte, hatte Clare die Augen auf einen wilden Feigenbaum und die Berge in der Ferne gerichtet, von deren Hängen Staubwolken aufstiegen und sich wie tanzende Teufel um die blassen Granitkuppen drehten; stumme Schildkröten, die sich aus der Erde erhoben. Sie hatten dann gewartet, sie und ihre Eltern, dass die beiden Särge in die Grube hinabgelassen wurden, hinabgesenkt auf Leinwandstreifen von den muskulösen Armen der Familienangehörigen ihres Schwagers, Männern, gerötet von der Sonne, schwitzend unter dicken Fettpolstern. Nachdem die anderen gegangen waren, hatten Clare und ihre Eltern Hände voller Erde auf die Särge geworfen, ehe zwei Männer zu schaufeln begannen. Später hatte sie sich gefragt, warum sie nicht selbst eine Schaufel ergriffen und mehr als bloß ein paar Handvoll Erde hinzugefügt hatte, statt den beiden jungen Männern nur zuzusehen, deren Hemden schweißdurchtränkt waren, denen Staub in Streifen das Gesicht hinunterlief. Sie
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