Acacia 01 - Macht und Verrat
Umhang gehüllt, den sie im Schrank gefunden hatte. Um nicht von dem Wachposten vor der Tür aufgehalten zu werden, kletterte sie aus dem Fenster, sprang auf den Innenhof hinab und öffnete das Tor zur Freiheit. Sie hatte keine Lampe mitgenommen, doch der Mond stand hoch am Himmel, und obwohl sie beim leisesten Geräusch zusammenfuhr, hatte sie keine Mühe, einem der knochenweißen Wege zu folgen, die von dem Anwesen fortführten.
Ein Stück weiter musste sie sich an einem zweiten Wachposten vorbeistehlen. Sie erahnte die Einzelheiten seines Körpers, seine Kopfhaltung und seine wahrscheinliche Blickrichtung. Der Wind wehte sogar einen muffigen Dunst heran – seinen Geruch. Als sie sich auf dem Weg nicht weiter vorwagte, trat sie vom Pfad herunter, schob sich geduckt durchs Gras und ertastete mit Händen und Füßen eine Mulde, in deren Schutz sie den Wachposten passieren konnte.
Ständig drangen Geräusche an ihr Ohr, die ihr Herz schneller schlagen ließen: das Knistern des Umhangs, das scharfe Knacken der Grashalme unter ihren Füßen, das Rieselgeräusch der Sandkörner, die sich unter ihrem Gewicht verschoben, das jähe Rascheln eines aufgeschreckten Nagetiers. Die ganze Zeit über fürchtete sie, der Mann werde sie anrufen. Sie hatte gehört, es sei schwierig, sich bei Nacht lautlos fortzubewegen, und die Marah-Soldaten seien besonders darauf geschult, ungewöhnliche Geräusche wahrzunehmen. Jetzt fragte sie sich, wer das gesagt hatte. Denn so schnell sie auch atmete, so weh selbst die kleinsten Geräusche ihr in den Ohren taten, so sehr ihre Waden aufgrund ihrer hockenden Haltung schmerzten – in Wirklichkeit kam ihr ihre Flucht gar nicht so schwierig vor. Sie schlich weiter und trat bald wieder auf den Weg. Ihre Füße, Hände, Finger und Muskeln wussten anscheinend von selbst, was sie zu tun hatten. Gern hätte sie sich hingesetzt, um über dieses kleine Wunder nachzudenken, doch sie war noch nicht am Ziel.
Vom Gelände führte eine Reihe Treppen hinauf. Die Stufen waren im Hang versenkt, sodass sie geduckt weitergehen konnte, ohne befürchten zu müssen, gesehen zu werden. Die Treppe endete an einer gepflasterten Straße. Mena überquerte sie und kletterte an der anderen Seite die steile Böschung hoch, indem sie sich am langen Gras festhielt.
Der Aufstieg währte nicht lange, dennoch verspürte sie große Erleichterung, als die Steigung abnahm. Schwer atmend legte sie die letzten Schritte zurück, langsam, wie man es tut, wenn ein Ziel erreicht ist. Oben angelangt, richtete sie sich zu ihrer vollen Größe auf, um über den Rand der Böschung auf die Landschaft dahinter zu blicken. Sie wusste, was dort sein sollte, der Gegenstand ihrer Neugier und der Grund – falls es überhaupt einen Grund gab – für diesen nächtlichen Ausflug. Dennoch war sie nicht gefasst auf das, was sie sah.
Die nächtliche Stille war auf der anderen Seite der Böschung zurückgeblieben. Der Mond war nirgends zu sehen, und auch nicht der klare Himmel, unter dem sie gerade dahingeschritten war. Stattdessen schien der Erdboden unter einer wogenden Staubwolke zu liegen, die in ständiger Bewegung begriffen war. Unter der Wolke erstreckte sich eine gewaltige Grube, riesenhaft und mit zahllosen Schlünden. Sie füllte Menas Gesichtsfeld vollständig aus, ein wüster Krater, eine Öde, wie sie es noch niemals erlebt hatte, erfüllt von einem pochenden, misstönenden, zornigem Getöse.
Sie schaute über den nördlichen Rand des Bergwerks von Kidnaban. Der Anblick löste ein Grauen in ihr aus, von dem sie vergessen hatte, dass es existierte; ein ähnliches Entsetzen hatte sie verspürt, als eine dumme Kinderfrau ihr einmal von Dämonenmenschen erzählt hatte, die in einem dampfenden Berg lebten und die Feuer darin mit unartigen Kindern heizten, die sie des Nachts aus ihren Betten holten. Wie damals in ihrer Vorstellung wurde die Grube vor ihr von hunderten einzelnen Feuern erhellt. Gebogene Glasplatten, mit denen Kessel voll brennendem Öl umgeben waren, schossen Strahlen in den Himmel ab. In diesem Licht konnte sie das Gewirr diagonaler Linien erkennen, das sie vom Kap Fallon aus gesehen hatte. Jetzt aber war sie viel näher. Die Linien waberten, als sie darauf starrte, verschwammen durch irgendeine kaum wahrnehmbare Bewegung. Zunächst glaubte sie, es läge an dem Licht. Es dauerte eine Weile, bis ihr klar wurde, dass es mehr war als das.
Die Linien waren Treppen und Simse, breite Wege, Maschinen, Rampen und Leitern, die
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