Acacia 01 - Macht und Verrat
amtierender Kanzler. Er tadelte Aliver, behauptete, der Befehl stamme von Leodan persönlich, und sagte, sie seien beide ehrenhalber verpflichtet, ihm Folge zu leisten. Am Ende jedoch war es nicht Überredungskunst gewesen, sondern Gewalt, durch die der Prinz an Bord gebracht worden war. Zusammen mit den anderen Kindern wurde er von verkleideten Marah-Leibwächtern auf das Schiff eskortiert, die deutlich machten, dass sie den durch den Kanzler übermittelten Anweisungen des Königs Folge leisten müssten. Obwohl er vor Wut kochte und angesichts dieser Kränkung hochrot anlief, blieb Aliver nichts anderes übrig, als sich vorübergehend mit seinem Exil abzufinden.
Gegen Abend des ersten Tages auf See kam Kap Fallon in Sicht. Über den schroffen Klippen erstreckte sich eine sanft wogende Landschaft mit hohem Gras und blühenden Blumen. Dariel saß mit Mena im Bug des Schiffes. Sie aßen gewürzte Sardinen auf Zwieback. Dariel pickte mehr an den Fischen herum, als dass er sie aß, und bemühte sich, mit der Messerspitze die weichen Gräten vom Fleisch zu trennen. Er sammelte sie auf einem Haufen, den er gelegentlich mit der Klinge über Bord schnippte. Irgendetwas daran erfüllte sie mit Liebe zu ihrem kleinen Bruder. Das Gefühl stieg mit wehmütiger Trauer um etwas Verlorenes in ihr auf, als säße sie nicht in diesem Moment neben ihm, noch immer ganz und gar seine Schwester, so wie er ganz und gar ihr Bruder war. Sie fragte sich, warum sie ihn mit einem Gefühl ansah, als sei es nicht länger so.
Aliver kam auf sie zugeschlendert, Edifus’ altes Schwert, des Königs Vertrauten, deutlich sichtbar an der Hüfte. Das Schwert wirkte zu groß für ihn, ein fremdartiges Anhängsel, das eher lästig als nützlich war. Er tat sein Bestes, seinen mürrischen Zorn abzuschütteln und wieder einen beherrschten Eindruck zu machen. Mena hätte ihn dafür am liebsten umarmt, doch sie wusste, dass ihm das nicht behagt hätte. »Wir nähern uns dem Bergwerk«, sagte er und ruckte mit dem Kopf. »Dort arbeiten Verbrecher, als Strafe. Auf Kidnaban gibt es ein noch größeres Bergwerk und eine ganze Reihe davon in Senival.«
Mena wandte den Kopf und blickte über die Reling. Als sie um die vorgelagerten Klippen bogen, warf die tief stehende Sonne dunkle Schatten und grelles Licht auf die Landschaft, sodass sie zunächst Mühe hatte, etwas zu erkennen. Die großen Schatten waren in Wirklichkeit gewaltige Gruben. Nach oben hin waren sie offen, und wie tief sie waren, konnte sie nicht erkennen, denn sie konnte nur die gegenüberliegende Wand sehen, die von Rinnen und Furchen durchschnitten war. Hier und da flammten Leuchtfeuer auf, von Glas umschlossene große Feuer, deren Schein vom Glas gebrochen und gebündelt wurde. Es war, als schleuderten sie Lichtscherben in den Himmel. Offenbar wurde dort auch nach Einbruch der Dunkelheit gearbeitet. Mena wunderte sich, dass es so viele Verbrecher gab, so viele törichte Menschen, die andere bestahlen oder ihnen etwas zuleide taten. Wenn sie einmal alt genug war, könnte sie vielleicht etwas dagegen tun. Dann könnte sie im Namen ihres Vaters umherreisen und die Menschen auffordern, die ihnen gebotenen Möglichkeiten besser zu nutzen und den lang währenden Frieden nicht mit kleinlichen Dummheiten zu verderben.
Die Nacht verbrachten sie in der windgeschützten Meeresenge zwischen Kidnaban und dem Festland. Am nächsten Nachmittag fuhr das Schiff in den Hafen von Crall ein. Am Abend lernten sie in dem auf dem Hügel gelegenen bescheidenen Anwesen des Bergwerksleiters, von dem man einen Blick auf die Stadt hatte, Crenshal Vadal kennen. Er war keine beeindruckende Erscheinung. Unterhalb der Unterlippe endete sein Gesicht abrupt. Es rutschte in einer glatten Diagonale geradewegs in seinen Hals.
Er sprach mit starrer Höflichkeit, schien sich jedoch gleichzeitig zu wünschen, ganz woanders zu sein, als wolle sein ganzer Körper rückwärtsrutschen und um eine Ecke davonschlüpfen. Mena bemerkte, dass es eine ganze Weile dauerte, bis er seinem Bedauern über Leodans Tod Ausdruck verlieh. Vermutlich hatte einer seiner Berater ihn mit einer Grimasse dazu aufgefordert.
Während sie speisten, erläuterte ihnen Crenshal ihr weiteres Schicksal näher. Sie sollten sich ganz einfach in einem Gebäude der Bergwerksverwaltung von der Öffentlichkeit fernhalten. Das sei schon alles. Dort sollten sie warten. Besucher würden sie keine empfangen, da niemand von ihrem Aufenthalt erfahren dürfe. Thaddeus werde
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