Acacia 01 - Macht und Verrat
auch durch die Macht des Fluches erhalten. Des Fluches, der die Seelen in diesen Hüllen in einem Tod ohne Erlösung festhielt. Sie verfügten noch immer über einen Körper, jedoch ohne den Puls und die Wärme des Lebens. Sie waren nicht anders gewesen als Haleeven. Es waren Menschen wie er gewesen. Ob sie vor fünfzig oder vor fünfhundert Jahren gelebt hatten, sie hatten die gleiche Sprache gesprochen wie er und waren auf dieser Hochebene umhergestreift. Und sie hatten alle kurze Zeit mit der Drohung einer ewigen Strafe gelebt. Genau wie er.
Haleeven trat vor und sprach die Worte, die Hanish ihm aufgetragen hatte. Gewiss wussten sie bereits, warum er hier war, dennoch stellte er sich förmlich vor. Er bat um Vergebung für die Störung und bekräftigte sein Gelöbnis, ihnen zu dienen. Dann versprach er ihnen, dass er sich morgen mit den Baumeistern, den Arbeitern und den Wagenlenkern treffen würde. Eine monumentale Aufgabe wartete auf sie. Er würde den Umzug unverzüglich in Angriff nehmen. Ihre endgültige Befreiung und ihre Rache seien nicht mehr fern.
Die Tunishni nahmen seine Worte nicht offen zur Kenntnis, doch mit seinem geschärften Bewusstsein nahm er einen Lufthauch wahr. Sie schienen zu flüstern, Geräusche, die wie ein Stöhnen aus der Tiefe der Erde klangen. Er spürte die Laute, konnte jedoch nicht behaupten, dass er sie tatsächlich hörte . Jedes Mal, wenn er innehielt und lauschte, herrschte nichts als Totenstille. Formte er jedoch genug Worte, um seinen Kopf zu füllen, schien die Kammer vor Bemerkungen widerzuhallen, die ihm entgegengeschleudert wurden, so unverständlich sie auch waren. Durchsetzt von Bosheit. Er fühlte sich von vollständiger Auslöschung bedroht, dabei vernahm er keinen einzigen eindeutigen Laut, nicht einmal einen Atemhauch.
Sie war so seltsam, die Macht der Tunishni. Haleeven konnte nicht sagen, dass er sie vollständig begriff. Dieses Wissen war ihm niemals vergönnt gewesen. Sie waren tot. Er befand sich in einem riesigen Grab, in dem die Toten Reihe um Reihe übereinandergestapelt waren, so kalt und leblos wie das Erdreich ringsumher, unfähig, den Gang der Welt zu beeinflussen. Im Grunde waren sie ihm ein Rätsel. Wären die Umstände anders gewesen, hätte er selbst Zwiesprache mit den Tunishni gehalten. In seiner Jugend war er nur einen Schritt, nur einen Tanz vom Häuptlingsamt entfernt gewesen. Doch es war ein gewaltiger Schritt gewesen, ein Schritt den er nicht hatte bewältigen können. Niemand konnte behaupten, dass Haleeven ein Feigling sei, und doch wäre er niemals dazu imstande gewesen, jemandem das Leben zu nehmen, den er liebte. Deshalb hatte er nie nach dem Thron seines rauen Volkes gegriffen.
Als er die Schatten über sich betrachtete, wusste er, dass die Wechselfälle seines Lebens bedeutungslos waren. Haleeven war stolz darauf, seinem Bruder gedient zu haben, und er war stolz, jetzt seinem Neffen zu folgen. Er hielt sich für den engsten Vertrauten des jungen Häuptlings. Offiziell hatte Maeander diese Stellung inne, doch Haleeven spürte die unausgesprochene Spannung zwischen den beiden. Vielleicht war Hanish sich dessen gar nicht bewusst. Das schien unwahrscheinlich, so scharfsinnig, wie er war, doch wir sind oft blind für die Feindseligkeit eines uns nahestehenden Menschen. Es nagte an ihm, dass er dies Hanish gegenüber nicht schon vor seinem Aufbruch in den Norden angesprochen hatte, doch dafür würde nach seiner Rückkehr noch Zeit sein. Bevor die Tunishni zufrieden gestellt waren, würde Maeander seinem Bruder nichts zuleide tun. Und was die Akaran-Prinzessin anging … nun, was immer Hanish für sie empfand, es würde ihn nicht davon abhalten, ihr die Kehle durchzuschneiden. Sein ganzes Leben lang hatte er danach gestrebt, den Ahnen zu gefallen. Haleeven war überzeugt, dass Hanish jetzt nicht versagen würde.
Doch er sollte nicht an solche Dinge denken, nicht in dieser Kammer. Er flüsterte Worte des vorübergehenden Abschieds, dann erhob er sich, drehte sich langsam um und schritt zum Eingang. Nichts hielt ihn auf. So mächtig sie waren, waren sie ohne ihn doch hilflos.
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Sie zogen sich nackt aus. Das war umständlich, jeder balancierte dabei auf einem Bein. Das Boot schaukelte in den Wellen. Sie legten alle Kleidungsstücke ab, dann standen sie einen Augenblick im Sternenlicht und betrachteten einander, gewöhnten sich an ihre Nacktheit. So würde ihnen das Schwimmen leichter fallen. Wasser perlte von Haut rascher ab, als man es
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