Acacia 01 - Macht und Verrat
sicher. Allerdings war er es nicht gewohnt, so viele Menschen um sich zu haben. Die Seeräuber hatten auf den Inseln verteilt gelebt. Allmählich schlugen ihm die Menschenmassen aufs Gemüt, zumal sie sich angeblich mitten im wilden talayischen Buschland befanden.
»Es gibt keinen anderen Weg«, erwiderte Leeka mit einem belustigten Funkeln in den Augen. »Und selbst wenn, hätten wir trotzdem Begleitung.«
Am Abend machten sie ein Feuer. Wren ging Fleisch kaufen und kehrte mit einem Gefolge aus Balbara-Halbwüchsigen zurück. Offenbar waren sie bezaubert von ihr und wetteiferten lautstark darum, sich nützlich zu machen. Obwohl Dariel sie nicht begrüßte, ließen sie sich am Feuer nieder, und den anderen schien es Spaß zu machen, mit ihnen zu scherzen. Die Jungen sprachen fließend Acacisch und wechselten nur dann in ihre Muttersprache, wenn sie sich über die Fremden lustig machten. Kurz darauf tauchte ein Flötenspieler auf, der sich erbot, ihnen aufzuspielen, wenn sie ihm dafür zu essen gäben. Als es Nacht wurde, ging es an ihrem Feuer hoch her, und es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen.
Dariel saß am Rand und fühlte sich ausgeschlossen. Den Grund konnte er nicht benennen. Clytus – zu diesem Zeitpunkt ein klein wenig betrunken – stimmte ein zotiges Lied über einen alten Bauern an, der allzu liebevollen Umgang mit einer seiner Hennen pflegte und deshalb alle möglichen Schwierigkeiten bekam. Leeka unterhielt sich mit einem Mann mit honigfarbener Haut, dessen Herkunft Dariel nicht einordnen konnte. Selbst Wren fühlte sich unter diesen fröhlichen Leuten heimisch und lachte mit ihnen. Hin und wieder blickte sie zu ihm hinüber und lächelte, doch sie bemerkte seine trübe Stimmung nicht. Und das war ein Teil seines Problems. Niemand beachtete ihn. Niemand sah ihm ins Gesicht und las ihm von der Stirn ab, wer er war. Er hatte unerkannt bleiben wollen, bis er seinen Bruder gefunden hätte, doch nun, da sich herausstellte, dass ihn tatsächlich niemand erkannte, kamen ihm Zweifel an dem ganzen Unternehmen. Wie sollte er Einfluss auf das Geschick der Welt nehmen, wenn niemand wusste, wer er war?
Allerdings schnappte er ein paar interessante Dinge auf. Mehrere Leute erzählten, sie wären kürzlich vom Nebel losgekommen. Wie das geschehen war, wussten sie nicht zu sagen. Sie hätten es nicht geplant, und alle meinten, sie seien der Droge verfallen gewesen. Sie hätten tagsüber gearbeitet und die Nächte im Nebelrausch verbracht. Doch irgendetwas habe sich geändert. Jeder wusste eine andere Geschichte zu erzählen, doch alle liefen auf das Gleiche heraus. Anstatt ihnen angenehme Träume zu bescheren, bereitete die Droge ihnen nur noch Albträume. Anstatt ihre Phantasien auszuleben, wurden sie mit ihren größten Ängsten konfrontiert. Von Nacht zu Nacht wurde es schlimmer. Binnen einer Woche waren die Albträume so schlimm geworden, dass sie sich von der Droge abwandten und es vorzogen, die Qualen des Entzugs zu erdulden. Diese Tortur würden sie niemals vergessen, doch sie waren nicht daran gestorben. Und jetzt, da sie wieder einen klaren Kopf hatten und von der Sucht befreit waren, entdeckten sie die Freuden des Lebens von Grund auf neu. Es war ein Wunder, und anscheinend verbreitete es sich wie eine ansteckende Krankheit in der ganzen Welt.
Irgendwann gesellte sich ein Acacier zu ihnen. Er erbot sich, für ein paar Streifen gedörrten Ziegenfleischs die Geschichte vom Schneekönig zu erzählen. Der alte Mann, der immer wieder innehielt, um zu essen und zu trinken, erzählte, der Schneekönig sei zu dem Schluss gelangt, dass die vor langer Zeit verbannten Magier die Welt wieder ins Lot bringen könnten. Er habe sich auf die Suche gemacht, sei durch ganz Talay gewandert, habe Laryxrudel abgeschüttelt, gehungert und gedürstet und sei schließlich durch eine Gegend gestolpert, in der die meisten anderen Menschen umgekommen wären. Dort habe er sie endlich gefunden, Riesen, die Steinen geglichen hätten. Mit Geschick und Beredsamkeit habe er sie dazu gebracht, sich dem bevorstehenden Krieg anzuschließen.
Dariel lauschte gebannt der Geschichte, die sich anhörte wie eine alte Legende. Allerdings hatte er sie noch nie vernommen. Auch von diesem Schneekönig hatte er noch nie gehört, und das wunderte ihn. An die Sagen, die er in seiner Kindheit kennen gelernt hatte, erinnerte er sich deutlicher als an alles andere. Außerdem konnte er mit dem Namen des Königs nichts anfangen. In dieser von der
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