Acacia 01 - Macht und Verrat
Kanzler ihn aufgesetzt und mit Kissen gestützt hatte, sah dieser zu, wie der König atemlos und mit äußerster Konzentration seine Hände in Schreibhaltung brachte. Er starrte auf das Blatt und auf seine Finger und zwang diese mit reiner Willenskraft, sich zu bewegen. Seine Hand ruckte und geriet immer wieder ins Stocken, die Buchstaben waren ungelenk und dicht zusammengedrängt. Die scharfe Spitze der Feder auf dem trockenen Pergament verursachte das einzige Geräusch im Raum. Thaddeus zupfte sich am Ohrläppchen, während er wartete und ihm die unwahrscheinlichsten Vorstellungen davon durch den Kopf wirbelten, was der König ihm wohl mitteilen wollte. Welche Anklage würde er vorbringen? Welchen Fluch? Und er fragte sich, wie würde er sich wohl verhalten, wenn dieser Sterbende ihn des Verbrechens beschuldigen sollte, dessen er tatsächlich schuldig war? Reichte sein Groll noch aus, um ihm die Stirn zu bieten? Er konnte keinerlei derartige Gefühle in sich entdecken.
Obwohl es lange dauerte, lag eine gewisse Befriedigung auf Leodans Zügen, als er das Pergament hob, damit Thaddeus es sehen konnte. Sagt den Kindern, ihre Geschichte ist erst zur Hälfte geschrieben. Sagt ihnen, sie sollen den Rest ergänzen und sie neben die größte aller Geschichten einreihen. Sagt ihnen das. Ihre Geschichte steht neben der größten Geschichte, die je geschrieben wurde.
Thaddeus nickte. »Gewiss, Herr.«
Der König schrieb weiter: Du musst ...
»Was soll ich machen?«, fragte Thaddeus, dem die Erleichterung deutlich anzuhören war. »Sprecht es aus, und ich werde es tun.« Er bemerkte seinen Fehler sogleich, berührte das Handgelenk des Königs und bedeutete ihm, er solle es aufschreiben: Schreibt es auf, und ich werde es tun.
Bei der nächsten Mitteilung verwandte Leodan weniger Mühe auf die einzelnen Buchstaben. Der Kanzler änderte seine Haltung, sodass er mitlesen konnte und mehr Zeit zum Entziffern der Worte hatte. Noch eher der König fertig war, hatte er begriffen, was von ihm verlangt wurde. Der König erinnerte ihn daran, wie er handeln solle, denn er selbst werde sterben, bevor seine Kinder alt genug waren, um die Herrschaft zu übernehmen. Es war ein Plan, der das Schicksal des Landes in die Hände des Kanzlers legte. Die einzelnen Schritte waren ausschließlich ihm bekannt, und nur wenige andere mussten eingeweiht werden. Wie betäubt begriff Thaddeus, dass sie schon früher darüber gesprochen hatten. Damals war es ihm lediglich wie eine aufwändige Formalität erschienen. Wie reine Phantasterei, die nur dazu diente, Leodans gelegentliche Anflüge von düsterer Schwermut zu beschwichtigen. Doch manche Phantasien waren anscheinend vom wahren Leben nicht zu unterscheiden.
»Ich glaube nicht, dass das nötig sein wird«, sagte er und legte seine Hand auf die des Königs. »Wir wissen noch zu wenig. Leodan, vielleicht überlebt Ihr ja doch. Vielleicht war dieses Attentat nur das Werk eines einzelnen Narren. Was Ihr verlangt, könnte die Kinder in Gefahr bringen, anstatt sie zu schützen. Damals war dies alles doch nur müßiges Gerede -«
Der König hieb mit der Faust auf seinen Schoß, das Gesicht starr vor Zorn. Mit einer anscheinend gewaltigen Kraftanstrengung – das Gesicht war verzerrt, die Kiefer öffneten sich weit, Zunge, Lippen, Augen und Wangen zitterten – brachte er hervor: »Tu... es.« Diese beiden Worte wiederholte er mehrere Male, bis sie unverständlich wurden und seine Zunge sie nicht länger formen konnte.
Einem solchen Befehl konnte man sich nicht widersetzen. Als Thaddeus eingewilligt hatte, entspannte sich Leodan. Er ließ den Atem entweichen und sank in die Kissen zurück. Er versuchte nicht noch einmal zu sprechen, sondern musterte den Kanzler eingehend mit feuchten Augen voller Güte. Thaddeus hätte sich beinahe abgewandt, doch der Blick des Königs hielt ihn fest. Kein Vorwurf lag darin. Thaddeus spürte, dass sein Freund ihn bat, sich an die schönen Dinge zu erinnern, an ihre Träume, an die Momente, die nur sie beide miteinander geteilt hatten. Er begriff, dass der König, obwohl er jäh dem Tod nahe war, einen Grund zur Freude hatte. Endlich stand es ihm frei, seine Kinder zu einem Kampf zu ermutigen, den er selbst zu seinem großen Bedauern nicht ausgefochten hatte. Von dem Kanzler verlangte er, sie auf eine gewaltige, beschwerliche, furchterregende Reise zu schicken, doch das hieß immerhin zu handeln. Für Leodan gab es keine andere Wahl mehr. Anscheinend hatte er keine
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