Acacia 02 - Die fernen Lande
erwartet. Wie dem auch sei, an ihrer Haltung erkannte er, dass sie es gewohnt war zu befehlen. Er brachte ein schicksalergebenes halbes Lächeln zustande. »Du bist bestimmt Mór.«
Sie kam direkt auf ihn zu. Ohne irgendeine Veränderung ihrer Haltung – als wäre durch den Raum zu schreiten und alles, was darauf folgen sollte, Teil einer einzigen Bewegung – streckte sie eine Hand aus, die Finger angespannt und leicht gekrümmt. Dann schlug sie ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Aber sie schlug ihn nicht nur, sie zog ihm auch die stummeligen, klauenartigen Ausbuchtungen an ihren Fingerspitzen durchs Fleisch. Der plötzliche Schmerz des Hiebes riss seinen Kopf herum, und alles um ihn herum drehte sich. In den Augenblicken danach, während er darum kämpfte, wieder zu Atem zu kommen, spürte er, wie die Furchen an Nase, Wangen und Lippen sich mit Blut füllten.
Von draußen vor der Tür, sagte Tunnel: »Ach, doch nicht das Gesicht!« Er wirkte mehr erheitert als schockiert.
Dariel spannte den Unterkiefer an. Das hier lief nicht gut. Aber Schmerz ist nützlich, dachte er. Beispielsweise bin ich jetzt hellwach. »Gilt das hier als Begrüßung? Eine merkwürdige Sitte. Wenn du so nett wärst, die Kette um meine Handgelenke loszumachen, würde ich die Begrüßung gern erwidern.«
Die Vogelfrau sagte: »Mór, nicht …«
Aber zu spät. Mór schlug mit der anderen Hand zu, härter als beim ersten Mal, wenn das denn möglich war.
Es dauerte ein bisschen länger, als es Dariel lieb war, bis er wieder Luft bekam. Dennoch blieb er ganz ruhig. »Es ist leicht, einen gefesselten Mann zu schlagen. Bestrafe mich so viel du magst, Mór. Bring’s hinter dich. Und dann würde ich gerne …«
»Halt’s Maul!« Die Frau bewegte sich so schnell, dass er nicht reagieren konnte. Er hatte den Satz eigentlich mit »reden« beenden wollen, doch zwischen zwei Worten rammte Mór ihm die Handwurzel ins Gesicht, so dass sein Hinterkopf gegen die Wand prallte. Er spürte den Aufprall nicht einmal mehr als Schmerz. Er verlor einfach das Bewusstsein. Das Letzte, was er sah, war das gefleckte Gesicht der Frau, ganz dicht vor ihm und rasend vor Zorn.
23
»Bedien dich. Es ist guter Whiskey, oder?«, fragte Delivegu. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und legte die gestiefelten Füße auf den Tisch.
»Das ist es«, sagte sein Gast, ein Mann namens Yanzen. Er bediente sich tatsächlich, füllte seinen silbernen Becher zum dritten oder vierten Mal. »Du schlägst das aber nicht auf meine Schulden auf, oder?«
»Nein, natürlich nicht. Wir spielen nicht mehr. Wir verbringen einfach unsere Mußestunden wie zwei Freunde. Muße und Vergnügen. Muße und Vergnügen.« Er deutete auf eine Pfeife und den Tabakbeutel auf dem Tisch. »Nur zu.«
Ohne Einleitung oder offensichtliche Herausforderung sagte Yanzen: »Du bist ein Bastard.«
Delivegu lachte. Er bestritt die Anschuldigung nicht und fühlte sich auch nicht gekränkt. Schließlich war er wirklich ein Bastard, das Kind einer jungen Frau, die an einem trunkenen Abend von einem senivalischen Ritter geschändet worden war. Eigentlich konnte er nicht behaupten, dass das Schimpfwort ihn ärgerte; schließlich hatte er von seinen Eltern Eigenschaften geerbt, für die er ihnen ziemlich dankbar war: von seinem Vater die kräftige Statur und von seiner Mutter die Ablehnung all dessen, was einem moralischen Kompass glich. Beides hatte ihm gute Dienste geleistet. In Anbetracht seiner letzten Gespräche mit der Königin schienen diese Charaktereigenschaften wie dazu geschaffen, ihm zu einem beträchtlichen Aufstieg zu verhelfen.
Sie befanden sich in dem Raum, den Delivegu tagsüber als Arbeitszimmer benutzte. Dank des kleinen Alkovens in der Ecke konnte man hier auch schlafen, wenn man es unten in der Schenke richtig übertrieben hatte. Obwohl er mittlerweile neununddreißig Jahre auf dem Buckel hatte, genoss sein Körper Ausschweifungen mit jugendlicher Häufigkeit noch immer. Selbst jetzt nahm er den Lärm des abendlichen Gelages, der durch den Fußboden und die Wände zu ihnen drang, sehr bewusst zur Kenntnis.
Yanzen griff nach der Pfeife, hielt sie dicht an seinen ordentlich getrimmten Schnurrbart und schnüffelte. »Der ist nicht mit Nebel versetzt, oder?«
»Was bist du misstrauisch!«
»Wer sagt, dass es Misstrauen ist? Ich hätte nichts gegen einen gelegentlichen guten Nebelschleier.«
Yanzen öffnete den Beutel, zupfte einen Bausch Tabak heraus und stopfte ihn in die Pfeife. Seine
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