Acacia 02 - Die fernen Lande
einem solchen Leben hätte zufrieden sein können. Und dann kam ihm ein anderer Gedanke.
Vielleicht ist Shen auch meine Tochter. Das würde erklären, warum sie ihm so viel Angst machte, und warum er sie bereits mehr liebte als sein eigenes Leben. Denn das war die Wahrheit. Was er zu Benabe gesagt hatte, war weder Trost noch leere Prahlerei gewesen. Obwohl er das Mädchen erst seit ein paar Wochen kannte, schien es ihm bereits, als sei sie zu schützen die einzig bedeutungsvolle Aufgabe in seinem Leben.
Und dann, so abrupt, dass es nur ein paar Minuten dauerte, um wieder zur Ebene hinunterzusteigen, endeten die Berge eines Morgens. Die vier Reisenden durchschritten die letzten Ausläufer und trotteten abermals durch eine Ebene, in der es weder Schatten noch Menschen gab, und die so karg war wie der ferne Süden, dem Kelis vor Jahren mit Aliver zum ersten Mal nahe gekommen war. Selbst die widerstandsfähigen Akazien waren nichts weiter als gelegentliche verkrüppelte Zerrbilder ihrer normalen Erhabenheit. Und hier stießen sie auf den Mann. Naamen sah ihn als Erster und verkündete seine Entdeckung mit einem Knurren. Die vier blieben stehen und starrten.
Der Mann stand so still wie eine Statue, gekleidet in ein Gewand im selben Sandbraun wie die Landschaft um ihn herum. Er hatte die Hände in Höhe der Taille gefaltet und schien nichts bei sich zu tragen – keine Vorräte, keine Waffen, keinen Stock, noch nicht einmal einen Wasserschlauch. Er hatte die Kapuze hochgeschlagen, doch das vom Sand zurückgeworfene Sonnenlicht beleuchtete sein Gesicht von unten. Er starrte die Reisenden unverwandt an, als habe er darauf gewartet, dass sie genau an dieser Stelle auftauchten. Kelis ließ seine Blicke umherschweifen, suchte nach anderen, nach irgendwelchen Zeichen, die die Anwesenheit des Mannes erklären würden. Eintönige Ödnis erstreckte sich in alle Richtungen. Er konzentrierte sich wieder auf die Gestalt. Sahen sie alle ein Trugbild – ein Zeichen dafür, dass ihre Reise sie von ihrem klaren Denken weggeführt hatte?
Shen ging weiter. Benabe flüsterte ihren Namen. Kelis wollte ebenfalls protestieren, doch er hielt die Worte zurück. Stattdessen schritt er aus, um mit dem Mädchen mitzuhalten. Als sie sich dem Mann näherte, bewegte dieser sich schließlich. Er fiel auf die Knie und drückte die Stirn auf den Boden. Nachdem er diese Stellung eingenommen hatte – die Arme zur Seite hin ausgestreckt, die Hände flach auf der ausgedörrten Erde –, tat der Mann nichts mehr.
Shen schaute zu den anderen zurück; ihr Gesicht verriet, dass sie ebenso erheitert wie verlegen war. Sie kniete nieder, berührte den Mann mit den Fingerspitzen an der Schulter und sprach die traditionelle talayische Grußformel: »Alter Freund, die Sonne scheint auf dich, doch das Wasser ist süß.«
»Das Wasser ist kühl, Euer Majestät, und klar, wenn man es ansieht«, antwortete der Mann und richtete seine Worte an die Erde. »Ihr werdet geliebt.«
Bei diesen wenigen Worten erkannte Kelis die Stimme des Mannes.
»Ich weiß«, sagte Shen, als bekäme sie dergleichen regelmäßig zu hören. »Haben die Steine dich geschickt, um mir das zu sagen?«
»Die Steine?« Der immer noch in seiner ehrerbietigen Stellung verharrende Mann klang einen Augenblick lang verwirrt, doch dann fuhr er in einem Rhythmus geübter Förmlichkeit fort: »Die Santoth haben Euch gerufen, und Ihr seid gekommen. Das ist ein Segen. Kommt mit, Prinzessin. Ich werde Euch zu ihnen bringen. Sie haben Euch viel zu erzählen.«
Ehe Kelis sich’s versah, kam ihm der Name des Mannes im Flüsterton über die Lippen. »Leeka Alain?«
Der Mann hob den Kopf, drehte sich um und sah ihn an. Einen Moment lang dachte Kelis, er hätte sich getäuscht. Das Gesicht des Mannes hatte so gar nichts mit dem zerfurchten Antlitz des Generals gemein, an das er sich erinnerte. Und dann doch. Und dann wieder nicht. Seine Züge wirkten so fest und beständig wie die aller anderen, doch sein Gesicht beherbergte mehr als die Züge eines einzigen Mannes. Es war alt und zerfurcht und von Wind und Wetter gezeichnet, doch es war auch ein Gesicht mit klaren grünen Augen und einer ehemals gebrochenen Nase und Lippen, die feucht glänzten, wenn er sie mit der Zunge benetzte.
»Hier nennen sie mich nicht so«, sagte der Mann, »aber …ja, das war früher mein Name.«
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Die halsbrecherische Geschwindigkeit, mit der der Klipper der Gilde in den Haupthafen von Acacia einlief, wäre selbst bei
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