Acacia 02 - Die fernen Lande
Traum erhoben sich die halb zerschmetterten toten Vögel vom Boden und versuchten wieder zu fliegen; ihre Köpfe baumelten heftig an ihren gebrochenen Hälsen, ihre Flügel waren verkrümmt und zerfetzt. Sie tanzten, hüpften wieder und wieder in die Höhe, nur um erneut auf die Erde zu stürzen; winzige Knochen brachen, und Federn bedeckten den Boden. In einer anderen Nacht schreckte er auf, schlug mit Armen und Beinen um sich und versuchte, den Bäumen zu entkommen, die plötzlich ihre verkrümmten Äste ausgestreckt und ihn gepackt hatten.
Und dann kam ein Traum, der die ganze Nacht dauerte und in dem es um einen Abend vor vielen Jahren ging: die Weiblichkeitszeremonie, an der er und Aliver teilgenommen hatten, kurz nachdem sie sich selbst die Männlichkeitsrechte verdient hatten. Er durchlebte den ganzen Abend langsam, in allen Einzelheiten. Als einer von denen, die gerade zum Mann geworden waren, tanzte er mit den anderen jungen Kriegern aus allen wichtigen Dörfern – darunter auch Aliver – in der langsamen Prozession, die sie wieder und wieder um den Kreis bewundernder Frauen herumführte. Die Trommeln dröhnten in einem gleichmäßigen Rhythmus, der immer wieder von den gezupften Ausbrüchen der Kalimbas unterbrochen wurde. Es war eine lange Zeremonie gewesen, und auch hier, in seinem Traum, war es so. Er durchlebte jeden Schritt, jeden Sprung, jedes Klatschen und Lächeln und jedes Kopfrucken aufs Neue, das er im Gleichtakt mit den anderen Männern vollführt hatte. Sie glänzten vor Schweiß, alle schlank vom Laufen und vom Üben mit den Waffen, alle zu jener Vollkommenheit gemeißelt, die der Schöpfer anfangs ins Leben gesungen hatte.
Alivers Haut mochte heller gewesen sein, was jedoch die Konturen seines Körpers und seine Bewegungen anging, unterschied er sich nicht im Geringsten von den Talayen. Kelis wusste in jedem Augenblick des Tanzes, wo er war. Dieses Wissen freute ihn, und manchmal hatte er das Gefühl, Aliver und er würden füreinander tanzen. Ihre Blicke kreuzten sich oft, und dann lächelten sie beide. Er wusste, dass Alivers Freude mit der Zeremonie zu tun hatte – mit der Vorfreude auf das, was kommen würde, und der Freude darüber, so vollkommen dazuzugehören –, aber für Kelis war es mehr. Ein Teil seiner Freude hatte mit der Erkenntnis zu tun, dass – sollte Aliver es wünschen – zwischen ihnen alles geschehen könnte. Keine Intimität wäre zu viel, von keinem Vergnügen würde Kelis sich abwenden. Es war eine Anziehungskraft, wie sie kein anderer Mann auf ihn ausübte, und doch fühlte sich etwas daran richtig an, voll und vollständig und auf eine Weise erhaben, die sich von der Anziehungskraft der Frauen unterschied. Es konnte zu allem führen.
Aber nicht in jener Nacht. Oder in irgendeiner der Nächte danach. Jener Abend bewegte sich auf einer Flutwelle vorwärts, die vom gemeinsamen Willen des Dorfes vorangetrieben wurde. An einem bestimmten Punkt veränderte sich das Tempo der Musik und verkündete dadurch, dass die Zeit des Wählens gekommen war. Binnen eines Augenblicks schwärmten die neuen Frauen auf die Männer zu, packten sie am Handgelenk, verkündeten lachend ihre Wahl mit lauter Stimme. Aliver wurde zum Mittelpunkt eines wirbelnden Chaos aus jungen Schönheiten. Kelis selbst wurde einige Zeit lang in zwei verschiedene Richtungen gezerrt, bis eines der Mädchen das Tauziehen gewann, indem sie sein Tuvey-Band packte und mit ihm davonwirbelte. Benabe gewann Aliver, vielleicht mit seiner Mithilfe. Was für eine Schönheit sie damals gewesen war! Kelis sah es ebenso klar und deutlich wie alle anderen Männer. Aliver war genauso begierig wie sie, so sehr, dass er auf ihr Drängen hin die Gruppe verließ, ohne Kelis auch nur einen flüchtigen Abschiedsblick zuzuwerfen.
Vielleicht war das die Nacht, in der Benabe empfangen hatte. Vielleicht hatte der Mann, an den Kelis gedacht hatte, während er eine Frau geliebt hatte, seinen Samen, aus dem einmal Shen werden würde, in eine andere Frau gepflanzt. Vielleicht – wenn nicht kurz danach Thaddeus Clegg gekommen wäre, um Aliver zu jenem Kampf abzuberufen, der ihn schließlich das Leben kosten sollte – hätte Kelis zugesehen, wie Aliver und Benabe geheiratet hätten, wäre in ihrer Nähe gewesen, als Shen zur Welt gekommen und herangewachsen war. Mit diesem Gedanken erwachte er, und während der wenigen, stillen Minuten, die ihm blieben, ehe die anderen sich rührten, versuchte er zu glauben, dass er mit
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