Acacia 02 - Die fernen Lande
Sprungs schlug die Frékete mit den Schwingen und raste dicht über die Köpfe der ehrfürchtigen Menge hinweg. Menschen duckten sich, warfen sich flach auf den Boden. Und dann erhoben sie sich wieder, brüllten und schrien, eine Kakophonie, der die Antoks und Kwedeirs und die übrigen Fréketen ihre Stimmen hinzufügten. Ein gewaltiger Lärm. Eine Armee, die ihre Anwesenheit verkündete.
Rialus nahm die Hände von den Ohren und legte stattdessen einen Finger an die Lippen. Ohne daran zu glauben, dass er eine Antwort bekommen würde, flüsterte er: »Schöpfer, beschütze uns.«
50
Sie mussten sich beeilen. Dariel schätzte, dass sie einen oder zwei Tage Zeit hatten, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, mehr nicht. Deswegen trieb er das Schiff der Lothan Aklun mit so erstaunlicher Geschwindigkeit voran. Es glitzerte im Licht der Vormittagssonne, während die grünen Wogen immer aufs Neue gegen seinen Rumpf klatschten und der Bug das Meer entlang der felsigen Südspitze von Lithram Len durchschnitt, um schließlich nordwärts an der zerklüfteten Ostküste der Insel entlangzurasen. Gewiss, sie könnten entdeckt werden, aber sie konnten sich keine Verzögerung erlauben.
Es stimmte, dass die Gilde schwer getroffen worden war, als Calrach sie abgewiesen hatte. Sire Neen – Dariel musste unwillkürlich kichern, wenn er an ihn dachte. Jetzt, wo er sich wieder frei auf der Welt bewegte, schien es leichter, mit den Erinnerungen umzugehen. Tunnel und ein paar der anderen, die sich unweit von ihm auf dem stampfenden Deck festklammerten, sahen den Prinzen fragend an, als er laut herauslachte. Das ließ ihn nur noch lauter prusten. »Das hat Euren Blick auf die Welt ziemlich verändert, was?«, rief er. »Ich meine, dass man Euch den Kopf abgeschlagen hat.« Die anderen starrten ihn einfach nur an.
Natürlich trugen die frische Luft und die Tatsache, dass er den Seegang spürte und ein Steuerrad in den Händen hielt, viel zu seiner guten Laune bei. Tief in seinem Innern war ein pulsierender Tatendrang erwacht, den er seit seinen Tagen als Piratenkapitän nicht mehr empfunden hatte.
Von diesem Tatendrang ließ er sich von innen her nähren, und gleichzeitig ließ er sich von der Dringlichkeit vorwärtstreiben, die die Außenwelt an ihn herantrug. Dariel kannte die Gilde gut genug, um zu wissen, dass sie nicht viel Zeit damit verbringen würden, Sire Neen zu betrauern. Und sie würden sich durch die Geschehnisse auch nicht von dem abbringen lassen, das sie in Ushen Brae vorhatten. Die Aktivitäten auf der Westseite von Lithram Len bewiesen das. Es könnte nur eine Frage von Tagen sein, bis die Gilde sich daranmachte, die andere Seite der Insel zu erforschen, wo sich, wie Skylene gesagt hatte, der Seelenfänger befand. Sie war die Einzige in der Gruppe, die darüber Bescheid wusste, und das auch nur, weil Mór ihr davon erzählt hatte. Zwar handelte es sich dabei größtenteils um die Erinnerungen eines Kindes, aber Dariel wusste, dass dergleichen überraschend akkurat sein konnte. Nachdem sie ein kleines Stück Richtung Norden gefahren waren, wies Skylene ihn an, langsamer zu fahren. Sie würden das Ufer sorgfältig beobachten müssen, um den Eingang zum Seelenfänger nicht zu verpassen. Er war deutlich sichtbar verborgen, sagte Skylene.
Das Ufer war dicht an dicht mit Bäumen bewachsen, die Dariel noch nie gesehen hatte. Sie waren so hoch wie die Kiefern im Hochwald von Calfa Ven, hatten aber schlankere Stämme. Ganz oben barsten Zweige in alle Richtungen aus dem Stamm und ließen den ganzen Baum kopflastig wirken, doch die Zweige verschränkten sich mit denen der Nachbarbäume, so dass alle miteinander verbunden waren.
Gelegentlich wurde der Baumbestand von Felsvorsprüngen unterbrochen. Und nach einem ganz besonderen dieser Felsen suchten sie, glitten jetzt getragen von den Wellen dahin, deutlich langsamer als zuvor. Dariel suchte den Horizont immer wieder nach anderen Schiffen ab, doch er hielt auch Ausschau nach dicht unter der Wasseroberfläche liegenden Riffen und musste außerdem immer wieder das Ufer anstarren.
»Auf dem Festland gibt es riesige Wälder, in denen viele Lebewesen hausen«, sagte Skylene, die zu ihm ins Ruderhaus gekommen war. Ihr Federschopf regte sich in der Meeresbrise. »Es heißt, dass es in Ushen Brae Wesen gibt – Eichhörnchen und Flugratten und Brüllaffen –, die ihr ganzes Leben im Geäst der Bäume verbringen. Stell dir das einmal vor: Sie brauchen den Boden unter sich nicht.
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