Acacia 02 - Die fernen Lande
danebenschießt. Kannst du das? Nur einmal danebenschießen, für mich. Mal sehen, ob du das tun kannst!«
Corinn lächelte. »Sei nicht albern. Warum sollte ich verfehlen wollen, was ich treffen kann?«
»Damit ich mich besser fühle.«
»Das wäre ein Grund, wenn es wirklich helfen würde. Aber du würdest dich doch gar nicht besser fühlen, oder? Nein, besser fühlen würdest du dich, wenn du die Scheibe noch näher beim Juwel triffst. Versuch es.«
Aaden tat wie geheißen, doch er ließ sich Zeit. Bedächtig wählte er einen Pfeil aus, hielt ihn vor sich, um zu prüfen, wie gerade und wie gut ausbalanciert er war. Er strich mit den Fingerspitzen über die Befiederung, legte den Pfeilschaft an seinen Eibenbogen und das eingekerbte Ende auf die Sehne. Corinn hörte, wie einer der umstehenden Diener einem anderen etwas zuflüsterte. Wahrscheinlich eine Bemerkung über die Sorgfalt des Prinzen. Das hatte sie ihm von Anfang an beigebracht, so sehr, dass er nicht ans Bogenschießen denken konnte, ohne sich gleichzeitig jeden Schritt der langsamen Vorbereitungen vorzustellen. Als er schließlich den Bogen krümmte, bemühte er sich, ihn trotz des Zugs ruhig zu halten.
»Begrenze die Welt«, sagte Corinn. »Sieh das Herz. Spüre die Verbindung zwischen ihm und dir. Finde sie. Du zielst nicht auf ein fernes Ziel. Du legst den Pfeil auf den Pfad, der längst für ihn geschaffen wurde.«
Sein Pfeil flog los, doch Corinn wusste sofort, dass er vom Kurs abgekommen war. Er traf schief in der unteren Ecke der Zielscheibe auf, drehte sich und hing schlaff herab.
Der Junge fuhr in kindischer, lächelnder Entrüstung herum. »Was ist passiert? Ich habe genau gezielt!«
»Du hast den falschen Pfad gefunden, Aaden.« Sie ließ die Worte einen Augenblick lang wirken und fügte dann hinzu: »Du warst nicht ruhig, als du losgelassen hast. Dein Arm hat geschwankt. Komm, ich zeige es dir noch einmal.«
Sie leitete ihn an, freute sich darüber, wie genau Aaden zuhörte, wie er versuchte, ihre Vorstellung von Pfaden zu verstehen. Er war mit vollem Ernst bei der Sache, auch wenn er kein besonders begabter Bogenschütze zu sein schien. Während sie ihm zusah, versuchte sie sich zu erinnern, wie gut sie in seinem Alter geschossen hatte, doch es gelang ihr nicht. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie den Pfad zu ihren Zielen immer sehen können. Er war immer da gewesen, und solange sie wartete, bis sie ihn gefunden hatte, verfehlte sie nie ihr Ziel. Wenn sie ihn gefunden hatte und den Pfeil entließ, war sie sich ihres Treffers so sicher, als würde der Pfeil durch eine in der Luft schwebende Röhre zischen. Aber wann hatte das angefangen? Sie hatte nach Erinnerungen in ihrer Kindheit gesucht, doch eigentlich ging sie nie weiter zurück als bis zu jenem Nachmittag, als sie in Calfa Ven mit Hanish Mein auf Zielscheiben geschossen hatte. Doch sie musste das Bogenschießen vorher erlernt haben. Sie war damals eine junge Frau gewesen, kein Kind mehr. Sie hatte bereits viele Schmerzen hinter sich und …
Aaden unterbrach ihre Gedanken. »Können Devlyn und die anderen nächstes Mal mit uns schießen?«
»Devlyn?«
»Er ist ein guter Schütze, der beste in seiner Gruppe.«
»Devlyn.« Sie hatte den Namen jetzt schon mehrere Male aus Aadens Mund gehört. Devlyn. Er stammte aus einer neuen Agnatenfamilie, glaubte sie. Leute vom Festland. Sie würde sich seine Abstammung ansehen müssen. Es war gut möglich, dass er gar nicht richtig zum Adel gehörte, wenn man in Betracht zog, wie viele neue Verbindungen die Schreiber gefunden hatten, um eigentlich gemeine Familien in die Aristokratie aufnehmen zu können. Eine beklagenswerte Notwendigkeit, nachdem die beiden Kriege und Hanishs Säuberungen die alten Familien so gut wie ausgelöscht hatten. Eigentlich jedoch interessierte sie der familiäre Hintergrund des Jungen gar nicht so sehr, sondern vielmehr Aadens bewundernder Tonfall, wenn er ihn erwähnte. Sie würde feststellen müssen, ob das etwas Gutes war oder nicht.
»Wir könnten ein Bogenschießen mit ihnen veranstalten«, fuhr er fort. »So etwas wie ein kleines Turnier, aber nur meine Freunde und ich. Vielleicht gewinnt ja jemand anders, aber das ist mir gleich. Wir machen es nur zum Spaß. Können wir das tun?«
»Wir werden sehen«, sagte Corinn. »Aaden, du weißt doch, dass du nicht so bist wie deine Freunde. Eines Tages wirst du dieses Reich regieren müssen.«
»Ich weiß. Deswegen sollte ich ja Freunde haben. Gefährten!
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