Acacia 02 - Die fernen Lande
seinen Namen, und der Mann stand auf und … es war nicht Aliver! Der Mann, der aufstand und sich zu ihr umdrehte, war schlank und hatte blonde Haare; er trug eine schwarze Thalba und bequeme Hosen. Seine Augen waren von einem unglaublichen Grau, glänzten wie geschmolzenes Silber – das waren nicht die Augen eines menschlichen Wesens, und doch waren es seine. Hanish Meins Augen.
Sie sah, dass seine Lippen auf ihre Anweisung hin zugenäht worden waren. Und sie wusste, dass ihm – wiederum auf ihren Befehl – ein Knäuel aus verbogenen Angelhaken in den Mund geschoben worden war, ein rostiges, übles Ding, bevor Nadel und Faden seine Lippen straff zusammengezogen hatten. Sie hatte gewollt, dass er dagegen ankämpfen musste, es nicht zu schlucken, und dabei doch wissen würde, dass er es irgendwann tun musste und dass es dann eine blutige Spur in seinem Innern hinterlassen würde. Sie hatte gewollt, dass er litt. Jetzt erschien ihr diese Vorstellung entsetzlich. Wie hatte sie so etwas jemals wollen können? In jenem Augenblick wollte sie nichts weiter als sich in seine Arme werfen und ihm alles vergeben.
Obwohl Hanishs Miene ganz ruhig war, als er sie ansah, rannte sie auf ihn zu, wollte den Faden durchschneiden, seinen Mund öffnen und das widerhakenbewehrte Metallknäuel herausziehen. Doch ihre Füße wollten sie nicht vorwärtstragen. Sie rannte, aber die Entfernung zwischen ihnen wurde nicht geringer. Und dann kam die letzte, grässliche Erkenntnis. Das da vor ihr war auch nicht Hanish Mein. Es war Aaden, und er umklammerte seine Kehle, als die Haken sich hindurchbohrten und Blut zu spritzen begann. Dieser Anblick, dieser entsetzliche Anblick, war unerträglich.
Sie erwachte um sich schlagend, allein und in die Decken ihres riesigen Bettes verstrickt. Ein paar Sekunden lang kämpfte sie darum, dem Entsetzen zu entfliehen, das sie noch immer umfing, und hatte Angst, dass es sie dieses Mal nicht loslassen würde. Aber es ließ sie immer los, und dann drehte sie sich auf die Seite, rollte sich zusammen, zog die Knie dicht an die Brust und weinte. Es war eine nächtliche Folter, der sie ganz allein ausgesetzt war. Sie nahm niemanden mit in ihr Bett – seit jener Nacht nicht mehr, als sie neben Hanish Mein aufgewacht war und gehört hatte, wie er mit seinen lange verstorbenen Vorfahren sprach, wie er ihnen ihr Leben versprochen hatte, Corinns Leben. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt schlafen konnte.
Sie achtete darauf, dass alle Spuren des Traums und die grausamen Erinnerungen verschwunden waren, wenn sie ihre Zofen rief und den Tag begann. Tatsächlich stählte sie sich gegen jeglichen verborgenen Sinn, den der Traum andeutete, und zeigte der Welt eine Miene vollkommener Gewissheit. Das war es, was von einer Königin erwartet wurde. Was von einer Mutter erwartet wurde. Sie sagte sich, dass der Traum sie stärker machte. Und vielleicht war es auch so.
»Der Langbogen ist eine königliche Waffe«, sagte Corinn. Sie legte einen Pfeil auf die Sehne und drückte den Schaft mit dem gekrümmten Finger gegen den Bogen. Aaden stand neben ihr; beide befanden sich hinter einer Markierung, die abgesteckt worden war, um die Entfernung zu dem Ziel zu messen, das die Diener im Gras einer der oberen Terrassen aufgestellt hatten. Es war mitten am Vormittag an einem klaren Tag; die Brise wehte unregelmäßig und sanft, und der Traum war weit weg.
»Ich weiß, dass du gerne mit dem Schwert übst, und das ist gut so. Aber ein König kämpft nur selten im dichtesten Getümmel. Er muss wissen, wie man den Überblick behält, um den ganzen Horizont und alle Spieler zu sehen. Verstehst du? Im Gewühl eines Schlachtfelds kannst du nicht weiter sehen als bis zu den Reihen der Soldaten um dich herum. Und außerdem bist du verwundbar, so wie mein Bruder es war.« Sie reckte die Waffe hoch in die Luft, streckte den Bogenarm durch und senkte den Bogen dann auf Augenhöhe. Dabei zog sie die Sehne bis an die Wange zurück. »Du, Aaden, wirst niemals auf diese Weise verwundbar sein.«
Sie öffnete die Finger. Der Bogen surrte, und der Pfeil verschwand. Eben war er noch in ihrer Hand, dann war er fort, nur um sich noch einen Augenblick später im gelben Mittelkreis der hölzernen Zielscheibe zu zeigen. Zwei Fingerbreit von dem rubinroten Herz entfernt, das das genaue Zentrum kennzeichnete, steckte er tief im Holz.
»Du schießt nie daneben«, rief Aaden. Er tanzte um sie herum. »Ich würde gerne sehen, wie du wenigstens einmal
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