Accelerando

Tagen es Wilden Westens nicht mehr vorgekommen
ist. Die besten Gehirne blühen in der Schwerelosigkeit auf.
Es sind Intelligenzen, die von einem mit Wissen ausgestatteten
Äther umgeben sind, in dem es vor Agenten nur so wimmelt. Und
diese Agenten besitzen ein Vielfaches der Denkkapazität der
Cortices aus Fleisch und Blut. Ein Beispiel dafür ist Amber,
die als Königin über das Imperium des Inneren Ringes
herrscht – das erste Machtzentrum in der Umlaufbahn Jupiters,
das sich ganz von selbst ständig weiter ausdehnt.
    Am Grunde des terrestrischen Gravitationstrichters ist es zu
einer schweren Wirtschaftskatastrophe gekommen. Billige Mittel,
die Unsterblichkeit verheißen, außer Kontrolle
geratene synthetische Adjuvantien zur Erzeugung von individuellen
Antikörpern sowie eine neue, formelle Theorie der Ungewissheit haben dahingehend zusammengewirkt, dem
Versicherungsgewerbe jede Grundlage zu entziehen. Niemand will
mehr auf die Fortdauer der schlimmsten Aspekte menschlichen
Daseins, auf Krankheit, Siechtum oder Tod setzen, denn dabei
winken nur Verluste. In der Folge hat sich eine fast fünfzig
Stunden währende Abwärtsspirale entwickelt, die riesige
Teile des globalen Aktienmarkts in die Baisse gezwungen hat. In
der entwickelten Welt gelten Genie, gutes Aussehen und ein langes
Leben mittlerweile als menschliche Grundrechte. Selbst die
armseligsten Hinterwäldler spüren die Auswirkungen der
Vermarktung von Intelligenz.
    Nicht alles ist Friede, Freude, Eierkuchen in der Ära
ausgereifter Nanotechnologie. Die weit verbreitete Erweiterung der
Intelligenz führt nicht unbedingt dazu, dass sich die
Menschheit auch rationaler verhält. Überall auf dem
Planeten schießen neue Religionen und seltsame Kulte wie
Pilze aus dem Boden. Weite Teile des Netzes liegen lahm, weil sie
mehreren semiotischen Dschihads zum Opfer gefallen sind. Indien
und Pakistan haben den längst erwarteten Atomkrieg vom Zaun
gebrochen. Die Intervention von außen, durch Nano-Satelliten
der USA und der EU, hat die meisten Mittelstreckenraketen zwar
stoppen können, sodass sie ihre Ziele nicht erreicht haben,
doch die folgende Flut von Netzwerk-Attacken und
BASILISK-Angriffen hat ein Chaos ausgelöst. Zum Glück
kann man einen Informationskrieg leichter überleben als einen
Atomkrieg, wie sich herausstellt – besonders dann, wenn man
erst einmal gemerkt hat, dass ein einfacher
»Kantenglättungsfilter«, der keine Pseudonyme
durchlässt, neun von zehn LANGFORD-Fraktale (die neuronale
Wetware zum Absturz bringen) davon abhält, etwas Schlimmeres
als leichtes Kopfweh auszulösen.
    Die neuen Entdeckungen in dieser Dekade schließen auch
die Ursprünge der schwach abstoßenden Kraft mit ein,
die für Veränderungen in der Ausdehnungsgeschwindigkeit
des Universums nach dem Urknall verantwortlich sind – und
außerdem, nicht ganz so abstrakt, den experimentellen
Einsatz eines Turing-Orakels, für das man
Quantenverschränkungen nutzt. Es ist ein Instrument, mit dem
man bestimmen kann, ob eine Funktion, die von anderen
Gegebenheiten abhängig ist, in endlicher Zeit evaluiert
werden kann.
    In der Kosmologie des tiefen Raums herrscht Hoch-Zeit: Einige
der Wissenschaftler, die eher der Grundlagenforschung zuneigen,
streiten sich über die Frage, ob das ganze Universum
ursprünglich als Rechner geschaffen wurde, dessen Programm im
Kleingedruckten der Planck’schen Konstante codiert ist. Und
wieder einmal reden Theoretiker von der Möglichkeit,
künstlich erzeugte Wurmlöcher dazu zu nutzen,
unmittelbare und unverzügliche Verbindungen zwischen weit
entfernten Winkeln der Raumzeit herzustellen.
    Die meisten Menschen denken mittlerweile nicht mehr an die
wohlbekannte Botschaft Außerirdischer, die vor fünfzehn
Jahren auf der Erde eintraf. Und nur sehr wenige wissen etwas von
der zweiten, komplexeren Botschaft, die nicht lange danach
empfangen wurde. Viele dieser Menschen sind inzwischen Passagiere
oder Beobachter der Field Circus, eines mit Lichtsegeln
ausgestatteten Raumschiffs, das derzeit mit unglaublicher
Geschwindigkeit das Sonnensystem verlässt. Das Raumfahrzeug
wird von einem Laserstrahl angestoßen, den Ambers
Installationen in der niedrigen Umlaufbahn Jupiters erzeugt haben.
(Supraleiter, die fest mit Amalthea verbunden sind, schneiden
durch Jupiters Magnetsphäre und versorgen die hungrigen Laser
mit Gigawatt von Elektrizität – Energie, die ihrerseits
dem orbitalen