Accelerando
Dinge vor: »Ich liebe
dich, und du liebst mich, denn das Gesetz der Schwerkraft
spricht…«
Sie lässt sich mit den Füßen voran zur Plattform
hinunter, die seitlich aus der Kapsel ragt und wie ein Sims aussieht,
der Selbstmörder zum Sprung einlädt. Die mit Metall
verstärkten Klebestreifen greifen. Amber zieht an den Gurten, um
ihren Körper so zu drehen, dass sie seitlich an der Kapsel
vorbeiblicken kann. Die Kapsel hat eine Masse von rund fünf
Tonnen und ist kaum größer als eine uralte Sojus. Bis zur
Grenze ihrer Belastbarkeit ist sie mit umweltsensiblem Zeug voll
gestopft, das Amber später brauchen wird, außerdem
verfügt sie über eine auffallend große, hochsensible
Antenne. »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, sagt
jemand über die Sprechanlage.
»Selbstverständlich weiß ich…« Sie
hält inne. Allein in dieser Eisernen Jungfrau aus Beständen
der NPO Energija, die nur über geringe Bandbreite verfügt
und deren Installationen bizarr wirken, fühlt sie sich hilflos
und hat Platzangst. Teile ihres Verstandes funktionieren hier nicht.
Sie erinnert sich: Sie war vier Jahre alt, als ihre Mutter sie zu
einem berühmten Höhlensystem irgendwo im Westen mitnahm.
Fünfhundert Meter unter der Erde schaltete der Führer alle
Lampen aus. Als die Dunkelheit Amber einhüllte, erschrak sie
zutiefst und fing an zu schreien.
Jetzt ist es nicht die Dunkelheit, die ihr Angst
einflößt, sondern die Abwesenheit eines denkenden
Verstandes. Da unten gibt es auf hunderte Kilometer hinaus kein
denkendes Wesen. Und selbst auf der Oberfläche wird ihr nur das
schwachsinnige Geschwätz von Robotern Gesellschaft leisten.
Alles, was das Universum zu einem primatenfreundlichen Ort macht,
scheint in dem riesigen Raumschiff eingeschlossen zu sein, das
irgendwo über ihrem Hinterkopf aufragt. Gewaltsam muss sie den
Drang unterdrücken, die Gurte zu lösen und sich an der
Nabelschnur hochzuhangeln, die die Kapsel fest mit der Sanger verbindet.
Sie ringt sich ein Wird schon gut gehen ab. Zwar ist sie
sich dessen keineswegs sicher, aber sie versucht es sich einzureden.
»Das ist nur die übliche Reiseaufregung, ganz normal, wenn
man von zu Hause aufbricht. Ich hab davon gelesen, okay?«
In ihren Ohren klingelt ein seltsam hoher Pfeifton. Einen Moment
lang verwandelt sich der Schweiß in ihrem Nacken in eisige
Kälte, doch gleich darauf hört das Geräusch auf. Sie
spannt sich kurz an. Als das Geräusch erneut zu hören ist,
erkennt sie es: Die bis eben noch gesprächige Katze hat sich im
warmen, mit Sauerstoff ausgerüsteten Gepäckcontainer
zusammengerollt und zu schnurren angefangen.
»Also los«, sagt sie. »Zeit, die Sache ins Rollen
zu bringen.« Ein Sprach-Makro, das tief in die Andock-Firmware
der Sanger eingebettet ist, identifiziert Amber als
Autorität und lässt die Kapsel sachte losgleiten. Ein paar
Kaltgas-Cluster zünden, sodass laute Vibrationen die Kapsel
erschüttern, als sie startet.
»Amber, wie läuft’s denn so?« Eine vertraute
Stimme dringt ihr ins Ohr. Sie blinzelt. Fünfzehnhundert
Sekunden sind vergangen, fast eine halbe Stunde.
»Hallo, Robes-Pierre, hast du heute schon Aristokraten
geköpft?«
»He!« Eine Pause. »Ich kann von hier aus deinen
Kopf sehen.«
»Wie sieht er aus?« Sie fragt sich, warum sie
plötzlich einen Frosch im Hals hat. Wahrscheinlich hängt
Pierre an einer der kleinen, an der äußeren
Schiffshülle befestigten Kameras, die das Umfeld sondieren, und
überwacht ihren Abstieg.
»Ähnlich wie immer«, bemerkt er lakonisch. Diesmal
tritt eine längere Pause ein. »Ist schon eine irre Sache,
weißt du? Übrigens lässt dich Su Ang
grüßen.«
»Hallo Su Ang«, erwidert sie und widersteht dem Drang,
sich zurückzulehnen, nach oben zu blicken – nach oben von
ihren Füßen aus gesehen, nicht gemessen an ihrem Vektor
– und zu überprüfen, ob sich das große
Mutterschiff noch in Sichtweite befindet.
»Hi«, sagt Ang schüchtern. »Du bist sehr
tapfer, stimmt’s?«
»Kann dich aber immer noch nicht im Schach schlagen.«
Amber runzelt die Stirn. Su Ang und ihre überzüchteten
Algen. Oscar und die Kröten für seine pharmazeutische
Fabrik. Menschen, die sie seit drei Jahren kennt und kaum beachtet
hat. Nie hätte sie gedacht, dass sie diese Menschen einmal
vermissen könnte. »Hört mal, kommt ihr mich
besuchen?«
»Du möchtest, dass wir dich besuchen?«, fragt Ang
ungläubig. »Wann wird’s denn fertig sein?«
»Oh, recht bald.« Bei einem Output von vier
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