Accelerando
Kilogramm
pro Minute haben die Drucker, die auf der Oberfläche
strukturierte Materie erzeugen, schon vieles für Amber
hergestellt: eine Habitatkuppel, die inneren Strukturen einer
Zuchtstation für Algen und Garnelen, einen Bagger, um die
Station in den Boden einzubetten, eine Luftschleuse und sogar einen
Eimer Honig. All das liegt jetzt herum und wartet darauf, dass sie es
zusammenbastelt und in ihr neues Zuhause verlagert. »Sobald der
Borg von Amalthea zurück ist.«
»He, du nimmst also an, dass sie dorthin wollen? Wie kommst
du darauf?«
»Geh und frag sie selbst«, erwidert Amber. In
Wirklichkeit liegt es nicht zuletzt an ihr, dass die Sanger ihre Umlaufbahn nach oben und außen verlagert, näher
zum anderen Mond: Amber möchte ein paar Millionen Sekunden
allein sein und nicht von der Kommunikation mit dem Mutterschiff
gestört werden. Das Franklin-Kollektiv tut ihr einen
großen Gefallen.
»Sie hat die Nase wieder mal vorn, wie üblich«,
meldet sich Pierre in einem Ton, der in ihren skeptischen Ohren trotz
allem nach Bewunderung klingt.
»Genau wie du«, erwidert sie ein bisschen zu hastig.
»Komm mich besuchen, wenn ich die Versorgungssysteme fest
installiert habe.«
»Mach ich«, verspricht er. Eine Seite der Kapsel, die
neben ihrem Kopf, flammt rötlich auf. Als sie aufblickt, bekommt
sie gerade noch mit, wie der grelle blaue Laserstrahl des
Fahrtscheinwerfers der Sanger voll aufblendet.
Achtzehn Millionen Sekunden vergehen, fast ein Zehntel eines
Jupiter-Jahres.
Während der Imam auf das Display der Flugüberwachung
starrt, zupft er nachdenklich an seinem Bart. Derzeit scheint in
jeder Schicht ein neues bemanntes Raumschiff im Jupiter-System
anzukommen. Es ist nicht zu übersehen, dass sich diese
Raumregion nach und nach bevölkert. Bei seiner Ankunft befanden
sich hier nicht einmal zweihundert Menschen, und jetzt sind es so
viele, dass ihre Zahl der Einwohnerstärke einer Kleinstadt
entspricht. Ein Großteil der Menschen lebt im Zentrum des
Anfluggebiets, wie der Kartenausschnitt auf seinem Display zeigt. Er
holt tief Luft, versucht dabei, den allgegenwärtigen Gestank
alter Socken zu ignorieren, und mustert die Karte.
»Computer, wie steht’s mit meiner Flugbahn?«
»Flugbahn freigegeben, Beginn der letzten Annäherung in
sechs-neun-fünf Sekunden. Geschwindigkeitsbegrenzung bis zum
Abstand von zehn Kilometern zum Zielobjekt: zehn Meter pro Sekunde.
Nach Annäherung bis auf einen Kilometer Abstand: Geschwindigkeit
auf zwei Meter pro Sekunde drosseln. Ich lade jetzt die Karte der
Vektoren herauf, die beim Flug nicht tangiert werden
dürfen.« Teile der Anflugkarte leuchten rot auf. Die
Markierungen sollen verhindern, dass die Abgase seines Raumfahrzeugs
andere Flugobjekte in dieser Raumregion schädigen.
Sadeq seufzt. »Für den Anflug werden wir das
KURS-Programm benutzen. Ich nehme an, deren KURS-Flugüberwachung
ist aktiviert?«
»Das KURS-Hilfsprogramm zum Andocken ans Zielobjekt ist bis
zum Standard drei verfügbar.«
»Gelobt sei Allah.« Der Imam durchsucht die Menüs
der Steuer-Subsysteme und aktiviert die Software-Emulation des
veralteten (doch überaus zuverlässigen) Andockprogramms der
russischen Sojus. Endlich einmal kann er das Schiff eine Weile sich
selbst überlassen. Er sieht sich um. Seit zwei Jahren lebt er in
dieser Blechbüchse, aber bald wird er sie verlassen, was ihm
völlig unwirklich vorkommt.
Plötzlich und unerwartet erwacht das Funkgerät, das
normalerweise schweigt, zum Leben. »Bravo Eins Eins, hier ist
die Flugkontrolle des Reiches. Melden Sie sich. Over.«
Sadeq zuckt verblüfft zusammen. Die Stimme klingt nicht wie
die eines Menschen; Rhythmus und Tempo deuten eher auf das
Sprachprogramm einer K.I. hin – wie bei so vielen Untertanen
Ihrer Majestät. »Bravo Eins Eins an Flugkontrolle: Ich
höre. Over.«
»Bravo Eins Eins, wir haben Ihnen einen Landeplatz am Tunnel
vier, Luftschleuse Delta zugewiesen. KURS-Programm ist aktiviert.
Stellen Sie sicher, dass Ihr Steuersystem auf sieben-vier-null
eingestellt ist und unsere Anweisungen befolgt.«
Er beugt sich über den Bildschirm und überprüft
hastig die Einstellungen zum Andocken. »Kontrolle, alles in
Ordnung.«
»Bravo Eins Eins, halten Sie sich bereit.«
Während die Flugkontrolle Sadeqs Raumfahrzeug, Typ 921, zum
Rendezvous auf dem Asteroiden geleitet, kommt es ihm so vor, als
zöge sich diese letzte Stunde endlos hin. Orangefarbener Staub
bedeckt das einzige Bullauge aus optischem Glas.
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