Achilles Verse
Prozent. Die Rechnung lautet:
75 % von 180 (220–40) = 135
Fortgeschrittene jagen den Puls mindestens einmal die Woche längere Zeit über 90 Prozent. All diese Angaben sind Mittelwerte, die individuell stark abweichen können.
Präzise Auskunft bringt nur eine Leistungsdiagnostik, die bei Sportärzten oft schon für weniger als 100 Euro angeboten wird. Die Ausgabe lohnt sich, denn der Läufer lernt eine Menge über seinen
idealen Trainingspuls. Freaks messen ihren Herzschlag jeden Morgen noch vor dem Aufstehen. Ein paar Schläge über dem Normalwert signalisiert: Achtung, Alarm, eine Krankheit ist im Anflug oder die Gefahr von Übertraining. Es ist allerdings unbequem, mit dem Brustgurt zu schlafen. Andererseits: Da man bereits Kompressionsstrümpfe für die Regeneration angelegt hat, ist es auch schon egal.
»Profis trainieren nach der Stoppuhr, nicht nach dem Pulsmesser«, sagt Achilles-Experte Dr. Matthias Marquardt (»77 Dinge, die ein Läufer wissen muss«).
Das Gegenteil von »gut gemeint« ist »gut gemacht«. Das Gegenteil von einem Weihnachtsgeschenk, über das man sich wirklich freut, ist eines, das sich die Gattin ausgedacht hat. Weihnachten bei Läufern, das ist eine heikle Angelegenheit.
Am Heiligen Abend steckte Karl schlechtlaunig seine Lego-Raumstation zusammen und hoffte insgeheim, doch noch irgendwo unter der ökologisch abgeholzten Nordmann-Tanne ein Paket mit Playstation oder Handy zu finden. Mona hatte ihr halbes Dutzend Päckchen Kosmetikkrempel ausgepackt, von kleinen spitzen Schreien begleitet. Endlich war ich an der Reihe. »Da«, sagte Mona, »frohe Weihnachten.« Sie grinste. Ich schüttelte das Päckchen. Die Größe war perfekt. Das leichte Rumpeln auch aus dem Karton auch. Definitiv nichts zum Anziehen. Immerhin. Könnte also tatsächlich die S625x sein, der Porsche unter den Pulsuhren.
Ich riss das Päckchen auf. Ein technisches Gerät. »Garmin«, stand drauf. Was war das nun wieder? Warum kannte ich das nicht? Mona hatte ihren Na-los-freu-dich-sofort-ganz-doll-Blick aufgesetzt. »Toll!«, sagte ich. »Das ist GPS«, sagte Mona. »Toll!«, sagte ich, nahm das Ding von der Größe eines Ziegelsteins aus dem Karton und kramte nach der mehrbändigen Gebrauchsanweisung. »Der kann Strecke und Tempo bestimmen – das hast du dir doch so gewünscht«, sagte Mona lauernd. »Toll«, sagte ich.
Den Rest des Weihnachtsabends verbrachte ich im Garten. Ich hatte das Verlängerungskabel nach draußen gelegt, denn der Garmin brauchte Strom für den Akku. Außerdem musste man ihn justieren, also mit freiem Blick zum Himmel irgendwo hinlegen. Er musste einen Satelliten finden. Ein Garmin funktioniert überall auf der Welt. Wenn er einen Satelliten gefunden hat. »Und?«, fragte Mona durchs Fenster. »Er sucht noch, dauert höchstens eine halbe Stunde«, zitierte ich die Gebrauchsanweisung. Karl rief: »Nacht, Papa!« Ich nieste.
Der Garmin ist kein schlechtes Gerät. Er ist nur ziemlich auffällig, eben ein komplettes Navigationssystem für Leute, die in Wüsten laufen und am Polarkreis oder die den Atlantik durchschwimmen. In Gegenden mit Straßenschildern ist er ziemlich überflüssig. Man muss das Ding mit einem Klettverschluss an den Oberarm schnallen. Auf meiner gelben Winterjacke ist er nicht zu übersehen. Mein Bizeps ist derzeit ausnahmsweise nicht repräsentativ genug für derlei Accessoires. Der Garmin ist schlichtweg oversized und angeberisch – ein Fuchsschwanz für Läufer.
Am zweiten Weihnachtstag ist Volkslauf, mitten in Berlin. »Da kannst du dein neues Supergerät gleich ausprobieren«, befahl Mona. »Mein Knie«, sagte ich. »Ich komme auf dem Fahrrad mit«, sagte Mona. »Ich auch«, krähte Karl. Na gut. Ich versuchte, den Garmin unter der Jacke zu befestigen. Doch dann sah ich das Display nicht. »Klappt’s?«, fragte Mona. Sie wollte unser neues Symbol der Besserverdienenden gut sichtbar getragen wissen.
Am Start standen ungefähr 800 Läufer. Ich hatte das Gefühl, dass sich alle anstupsten und grinsend auf meinen Oberarm zeigten. Sie hatten ja Recht. Ich war etwas überausgerüstet. Die verdammte Straße, auf der wir laufen würden, die sah man vom Satelliten aus mit bloßem Auge.
Ich fühlte mich sehr einsam. »Na, Meester, haste Angst, dir zu verloofen?«, fragte ein Dicker neben mir und zeigte auf den Garmin. »Weihnachtsgeschenk«, sagte ich und zeigte über die Schulter,
wo ich Mona hinter der Ansperrung wähnte. »Ah, vastehe, die Lady, wa?«, wisperte
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