Achsenbruch
Einfamilienhäusern in Reih und Glied gesäumt, bis sie endlich eine weite Rechtskurve nahm. In ihrem Scheitelpunkt erhob sich ein weiß-blaues, verklinkertes Monster, drei Etagen rechts, zwei Etagen links, umgeben von einer großen Rasenfläche – und ohne einen Zaun, der den Weg auf die Rückseite versperrte. Mager strich sich zufrieden über das bärtige Kinn: »Genau dahinter müsste Sonnenscheins Haus liegen!«
Hinter dem Klinkerbau hatte sich eine Horde Schaulustiger versammelt, deren Zahl noch wuchs. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis der Eigentümer Eintritt nahm und eine Pommesbude aufstellte. In diesem Gewimmel hatte PEGASUS Mühe, eine halbwegs gute Schussposition zu finden: Mal standen ein paar Johannisbeerbüsche im Weg, mal eine Brombeerhecke, dann wieder versperrte ein zu groß gewachsener Zuschauer Mager den Blick.
»Du bist für diesen Job einfach zu klein, Vadda«, konstatierte Kalle.
»Aber nicht zu blöd!«, konterte der Kameramann und schob eine grauhaarige Dame sacht zur Seite: »Junge Frau, wir sind vom WDR. Wenn Sie so freundlich wären …«
Susanne drängte sich ebenfalls in die Lücke und prüfte über Magers Schulter hinweg die Aussicht: »Zuerst einen Schwenk über das Tal. Dann das Haus, den Abschleppwagen und den Schrotthaufen dahinter. Anschließend Feuerwehr und Polizisten. Da unten auf der Wiese.«
»Ja, Mama«, maulte Mager. »Ich weiß, dass Polizisten nicht auf den Wolken reiten!«
Die Arbeit des Fernsehteams fand nicht nur Zustimmung. Es vergingen keine zwei Minuten, da stapfte ein kleiner Mann mit spärlichen Locken und Lodenjacke heran. Als er den Mund öffnete, hielt Susanne Ledig ihm das Mikrofon vor die Nase und fing den bemerkenswerten Satz ein: »Das ist Privatgelände!«
Susanne nickte dem informationsfreudigen Bürger freundlich zu: »Stimmt. Und wir sind das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Wo ist das Problem?«
Einem Augenblick lang stockte dem Gelockten der Atem. Dann fand er seinen Text wieder: »Sie dürfen hier nicht einfach eindringen!«
»Wir sind nicht eingedrungen. Es gibt weder einen Zaun noch ein Tor.«
»Trotzdem ist es privat.«
»Gut. Und Sie sind der Eigentümer?«
»Nein, aber …«
»Dann mache ich Ihnen einen Vorschlag: Sie rufen den Eigentümer an und informieren ihn – und wir tun weiter unsere Arbeit und informieren Deutschland. Okay?«
Während Kalle ein Taxi heranrief und die erste Kassette mit Aufnahmen vom Tatort zum Sender schickte, ließ Mager sich auf dem Rasen nieder und zündete sich eine Kippe an. Normalerweise konnte man diese Ecke Bochums beinahe als idyllisch ansehen und die Grundstückspreise und Mieten waren entsprechend hoch. Viel Grün und wenig Lärm wurden hier geboten – etwas anderes als gebrauchte Pommesschalen im Rinnstein vor dem Haus und die S-Bahn nach hinten raus.
Mehr als fünf oder sechs Lungenzüge waren Mager nicht vergönnt. Susanne führte die erste Interviewpartnerin heran: jene Dame, an der sie sich vorbeigedrängelt hatten, um eine bessere Sicht auf den Tatort zu haben.
»Frau Hahn, was haben Sie von den Ereignissen mitbekommen?«
»Es war schrecklich«, sagte sie. »Mein Mann und ich saßen wie jeden Morgen, wenn das Wetter schön ist, auf dem Balkon und frühstückten in aller Ruhe und unterhielten uns über …«
Komm schon, Alte, dachte Mager. Tante Theas achtzigster Geburtstag interessiert hier nicht! Er versuchte, das Blabla der Dame auszublenden.
»Als mein Mann gerade vorschlug, im nächsten Jahr eine Kreuzfahrt durch die Karibik zu machen …«
Susannes Gesicht blieb freundlich, während sie geduldig abwartete, dass die gute Frau zum Thema kam.
»Also, nein, so erschrocken war ich das letzte Mal, als bei unserer Silberhochzeit plötzlich jemand den Tisch mit dem Dessert umkippte. Das schöne Tiramisu und all die leckeren Puddingsoßen, von dem Geschirr mal ganz zu schweigen.«
»Danke für Ihren Kommentar«, sagte Susanne.
Dann drehte sie sich um und suchte nach einem brauchbaren Augen- und Ohrenzeugen. Erst beim vierten Versuch fand sie einen älteren Herrn, der sich an etwas Konkretes erinnern konnte: Er war nachts gegen drei Uhr aufgewacht, weil er seine Blase leeren musste, und konnte danach nicht wieder einschlafen.
»Senile Bettflucht, sagt meine Tochter. Schließlich bin ich auf den Balkon gegangen, um mir noch eine zu rauchen.«
Guter Mann, dachte Mager erfreut, du bist der lebende Beweis dafür, dass man durchs Rauchen nicht automatisch mit sechzig in der Urne
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