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Achsenbruch

Achsenbruch

Titel: Achsenbruch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reinhard Junge
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auftauchten, ergriff ein solches Entsetzen, dass sie nur noch mit Mühe bis auf den Mittelstreifen der Königsallee ausweichen konnten, um dort ihr Frühstück auszukotzen. Wenn sie damit fertig waren und schon glaubten, jetzt eingreifen zu können, packte es sie von Neuem und sie blieben, die Hand auf den Magen gepresst, wie versteinert dort stehen.
    Die lange Reihe der alten Platanen, die längs der Fahrbahn standen, versperrte den in der Schlange wartenden Lastwagenfahrern die Sicht auf den Unfallort, sodass sich die Nachricht über die Tragödie nur langsam verbreitete. Dann kam einer der Männer mit einer großen Plastikplane heran und deckte sie mit abgewandtem Gesicht über den Leichnam. Doch bald krochen rote Rinnsale unter der Schutzfolie hervor und suchten sich einen Weg über den Bürgersteig.
    Anna stand immer noch da. Am liebsten wäre sie weggerannt, aber sie konnte den Blick nicht von der Plane und dem Blut abwenden und ihre Füße ließen sich nicht bewegen. Nach endlos scheinenden Minuten liefen zwei Frauen aus dem Büro eines Pflegedienstes herbei, der neben dem Unfallort untergebracht war. Sie kauerten sich neben das Mädchen und redeten besänftigend auf das Kind ein. Irgendwann nickte Anna und ließ sich ins Haus führen, während die andere Frau ihr Fahrrad und den Rucksack barg.
    Rund um die Königsallee herrschten inzwischen Chaos und Verwirrung. Durch eine Kettenreaktion bildete sich ein Stau nach dem anderen. Zuerst war die Königsallee oberhalb der Unglücksstelle auf allen Spuren verstopft, danach auch die Ausweichstrecken. Einem dieser Staus fuhr PEGASUS entgegen und näherte sich dem Punkt, an dem nichts mehr weiterging.
    »Scheiße«, rief Kalle. »Wo kann man denn hier parken?«
    »An der Ampel drehen!«, schrie Mager. »Da drüben ist eine Haltebucht für den Bus.«
    Mit Warnlicht, Scheinwerfer und Hupe schaffte Kalle die Wende und kämpfte sich dreist bis in die Haltebucht vor. Susanne klappte die Sonnenblende mit dem WDR-Aufkleber herunter und dann hetzte das Team zurück bis zur Kreuzung, dann nach links in die Königsallee. Quer vor ihnen eine alte Bahnlinie, die auf einer Brücke die Straße überquerte.
    Ein Polizist versperrte ihnen den Weg: »Weiter dürfen Sie wirklich nicht.«
    »Können Sie uns denn sagen, was da passiert ist?«
    Er seufzte und blickte auf Magers Kamera: »Ist die aus?«
    »Ja. Das Mikro auch.«
    »Hinter der Unterführung ist ein Kind unter einen Sattelschlepper geraten. Voll beladen. War sofort tot. Sieht schrecklich aus.« Nun musste auch er einen dicken Frosch herunterschlucken. »Wäre gut, wenn Sie im Fernsehen nicht alles zeigen würden. So, wie dieser Junge jetzt aussieht – so will niemand sein Kind sehen!«
    »Versprochen«, nickte Mager und hob seine Kamera. »Wir haben aber einen Job.«
    Wie abwesend blickte der Beamte zur Seite und verfolgte mit den Augen den schmalen Weg, der nach oben zu den Bahngleisen führte: »Okay?«
    »Danke«, sagte Susanne. »Kommt, Jungs!«
    Keuchend erreichten sie die Gleise, die einst vom Bochumer Nordbahnhof über Weitmar nach Dahlhausen geführt hatten. Doch seit der letzten Zugfahrt hatten Büsche und Bäume die Schienen überwuchert. Die dreißig Meter Schotterstrecke zurück zu der alten Brücke waren nicht leicht. Zweige, die ihnen ins Gesicht peitschten, verrostetes Gerümpel und Baumwurzeln, die sie zum Stolpern brachten. Dann waren sie am Ziel.
    Dicht unter ihnen stand noch immer der Sattelschlepper mit den Stahlträgern, die Fahrertür weit offen, die Warnblinker eingeschaltet. Die tiefen, lehmigen Fahrspuren, denen der Truck folgen sollte, führten zu einem halb hochgezogenen Neubau am Rande des Büroparks. Eingezwängt zwischen Bahndamm und dem Haus mit dem Pflegedienst war der improvisierte Weg so schmal, dass immer nur ein Fahrzeug passieren konnte.
    »Noch ein Stück weiter!«, kommandierte Susanne und stolperte los. Als der Bürgersteig der Königsallee genau unter ihnen lag, hatten sie freie Sicht. Auf den Notarztwagen. Das platt gefahrene Mountainbike. Das Blut. Die Plane. Die immer noch entsetzten Blicke der Polizisten und Lastwagenfahrer. Und einen Mann im Arztkittel, der danebenstand und reglos auf irgendetwas wartete.
    »Mensch, Susanne«, würgte Mager. »Das – das können wir doch nicht …«
    »Doch!«, quetschte sie zwischen den zusammengebissenen Zähnen heraus, das Gesicht versteinert, die Augen ganz weit.
    »Susanne – ein Kind!«
    »Mach endlich!«
    Und Mager machte. Führte die

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