Achtung, Superheld! (German Edition)
Seitdem habe ich mich zurückgezogen, doch ich weiß genug. Genug, um dir jetzt zu erzählen, was wirklich in Noble’s Green vor sich geht. Wenn du meinst, dass du bereit bist, es zu erfahren.«
»Reden Sie weiter«, sagte Daniel. Er hatte ein flaues Gefühl im Magen, doch er musste es wissen. »Fangen Sie mit den übernatürlichen Kräften an. Woher kommen sie?«
»Ich hab nicht den leisesten Schimmer«, sagte Plunkett. »Von einem Meteoriten? Außerirdische? Vielleicht ist es genetisch bedingt? Vielleicht haben deine Freunde schon die nächste Stufe der Evolution durchlaufen?« Er kicherte in sich hinein. »Wer weiß, vielleicht ist was im Wasser?«
Daniel fing an, sich zu fragen, ob der alte Mann nicht schon ein wenig senil war. »Ich dachte, Sie sagten, Sie hätten Antworten?«
»Auf einige Fragen, ja. Doch nicht die, die du hören willst. Mir scheint, alles hat vor ein paar Jahren angefangen …«
»Vor ein paar Jahren? Aber das geht doch schon seit Generationen so. Was ist mit den Regeln?«
Plunkett schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts von irgendwelchen Regeln. Doch ich kann dir sagen, dass dies ein relativ junges Phänomen ist. Deine Freunde sind die Ersten ihrer Art.«
Daniel rieb sich die Augen. Das ergab keinen Sinn. Eric hatte ihm erzählt, dass die Regeln schon seit Generationen existierten.
»Der Shroud«, sagte Plunkett, »ist eine neuere Entwicklung.«
Daniel stand auf und begann, hin und her zu laufen. Das war einfach alles zu viel. Und warum sollte er Plunkett überhaupt glauben? Er konnte verrückt sein, oder noch Schlimmeres.
»Stell dir folgendes Szenario vor, Daniel«, fuhr der alte Mann fort. »Eines Tages, aus welchem Grund auch immer, tun einige Kinder dieser Stadt unglaubliche Dinge, magische Dinge. Einige können fliegen, andere sind stark, einige sind schnell. Und jetzt stell dir vor, dass ein Junge feststellt, dass er auch eine Gabe hat. Nur, dass es keine gute, leuchtende Gabe ist wie die seiner Freunde. Er kann nicht fliegen, nicht superschnell laufen; aber er kann … den anderen ihre Kräfte stehlen . Dieser eine ist wie ein Blutsauger. Er kann den anderen ihre Fähigkeiten rauben, sie in sich aufnehmen und zu eigenen Kräften werden lassen. Und noch mehr als das – wenn seine Freunde ihre Kräfte verlieren, verlieren sie auch die Erinnerung daran, sie jemals besessen zu haben.
Stell dir vor, du beobachtest deine Freunde dabei, wie sie all diese tollen Dinge tun, während du nur danebenstehst und nicht mitmachen kannst. Wie lange könntest du widerstehen?« Als Plunkett weitersprach, klang seine Stimme traurig und die Angst war verschwunden, jetzt klang vor allem Mitleid durch.
»Es ist einfach nicht fair«, sagte er. »Ein Kind sollte nicht vor so eine Wahl gestellt werden, es sollte einer solchen Versuchung nicht widerstehen müssen. Nur die wenigsten Erwachsenen wären stark genug dafür, von einem kleinen Jungen ganz zu schweigen. Besonders ein Junge, dessen Kopf voller Träume über Superhelden ist. Ein Junge, dessen Träume durch die bunten Comics über Helden und Schurken geprägt wurden. Das ganze Leben träumt der Junge davon, Johnny Noble zu sein, nur um eines Tages mit dem Wissen aufzuwachen, dass er etwas gänzlich anderes ist. Er ist das völlige Gegenteil. Er ist der Shroud.«
Daniel fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Er blickte auf den Stapel Comics vor sich, die komplette Sammlung von »Phantastische Zeiten mit Johnny Noble«. Vollständig bis auf zwei fehlende Hefte.
»Wer?«, fragte er, doch die Frage hatte bereits einen bitteren Nachgeschmack in seinem Mund hinterlassen.
Plunkett wischte seine staubigen Brillengläser mit seinem Pulloverärmel sauber, hauchte auf das eine Glas, dann wischte er noch einmal. Als er fertig war, antwortete er mit einer Gegenfrage.
»Denk noch mal an deine Erlebnisse zurück: Was hat der Shroud gemacht? Was kann er alles, und wen kennst du, der dasselbe kann? Du hast den Shroud jetzt zweimal gesehen und wer von euch war beide Male nicht mit dabei?«
Daniel schwieg, doch Plunkett nickte trotzdem. Der alte Mann sah das Verstehen, das Begreifen in Daniels Augen, und das reichte ihm. Daniel war dankbar, dass Plunkett es ihm ersparte, den Namen laut auszusprechen, denn das wäre ihm wie Verrat vorgekommen.
»Da ist noch ein letztes Bild im Umschlag, Daniel.«
Daniel fasste hinein und zog das Foto heraus. In einer Art Schockzustand warf er einen Blick darauf, holte tief Luft und legte es zurück. Dann setzte er
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