Acornas Heimkehr
Gelegenheiten, wenn sie solche Passanten trotzdem einmal zu unterbrechen versuchte, pflegten die Leute sich stets höflich, aber entschieden zu entschuldigen und ihr den Rücken zuzukehren, um ihre Unterhaltung von Acorna unbehelligt fortführen zu können. Sogar die Geschäfte und Läden schienen zufälligerweise immer gerade dann zu schließen, wenn sie sich ihnen näherte.
»Gibt es denn keine Schule, die ich besuchen könnte, keinen Kurs, den ich belegen könnte, oder keinen Lehrmeister, der mir beibringen könnte, was ich über die Kultur der Linyaari wissen muss?«, wandte sich Acorna schließlich Rat suchend an Großmama Naadiina.
Die alte Dame sah sie mitleidig an. »Was es über unsere Kultur zu wissen gilt, lernen wir von unseren Eltern und indem wir von klein auf darin aufwachsen. Es hat noch nie zuvor einen Außenstehenden unter uns gegeben – demzufolge bestand auch nie die Notwendigkeit, jemandem aus unserem eigenen Volk Unterricht darin zu erteilen, wie man ein Liinyar wird. Außerdem stellst du dich in meinen Augen ohnehin ganz großartig an – ehrlich! Mit Ausnahme dieses Lächelns auf dem Empfang könnte ich dir nicht eine einzige konkrete Sache nennen, die du falsch gemacht hättest. Wenn du von vornherein unter uns aufgewachsen wärst, würde niemand auch nur eines deiner Worte oder irgendeine deiner Handlungen kritisieren. Aber siehst du, du bist nun mal nicht hier aufgewachsen. Deshalb sehen viele unserer Leute, trotz der unleugbaren Tatsache, dass auch du eine Liinyar bist, dich zwar vielleicht nicht als ausgesprochene Barbarin an, aber doch zumindest als jemanden, der eben keine waschechte Liinyar ist. Und weder ich noch die Ahnen vermögen sie vom Gegenteil zu überzeugen. In manchen Dingen sind wir nun mal leider ein ausgesprochen engstirniges Volk.«
»Ich verstehe«, sagte Acorna. Und das tat sie auch, doch gefallen wollte es ihr trotzdem nicht. Gleichgültig, wie sehr sie sich auch von den Leuten unterschieden hatte, unter denen sie aufgewachsen war, so waren viele Menschen dennoch bereit gewesen, ihr eine Chance zu geben und wenigstens den Versuch zu machen herauszufinden, wer sie war. Sie hatten Acorna nicht nur ernährt und gekleidet und erzogen – sie hatten sie geliebt, trotz des Umstandes, dass sie ihr Aussehen und ihr Verhalten als außerordentlich fremdartig empfunden haben mussten. Sie hatten sich einfach bemüht, die Unterschiede zwischen ihnen und ihr zu überwinden und ihr geholfen, sich in der Welt der Hornlosen zurechtzufinden. Hier hingegen, wo sie genau wie alle anderen aussah, fühlte sie sich plötzlich so andersartig wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
Die Erinnerung an Gill, Calum, Rafik, den liebenswerten Herrn Li, die klugen Kendoros und den listigen Onkel Hafiz trieb ihr vor Sehnsucht nach den Freunden beinahe Tränen in die Augen.
Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Nie hätte sie gedacht, dass ihr eigenes Volk, ausgerechnet jene Leute, von denen Neeva und die anderen behauptet hatten, dass sie ebenso empfindsam Gefühle lesen und Wunden heilen könnten, wie sie selbst es vermochte, so schwer für sie zu erreichen sein würden. »Man könnte fast meinen, sie haben Angst vor mir«, klagte sie Großmama ihr Leid.
»Vielleicht haben sie das ja sogar«, meinte Großmama Naadiina. »Deine Rückkehr hat mir gezeigt, dass unser Volk seit unserem Exodus von Vhiliinyar sehr schreckhaft und fremdenscheu geworden ist. Ich weiß wirklich nicht, was ich dir noch raten könnte, Liebes, außer weiterhin geduldig mit ihnen zu sein.«
Acorna nickte und tat ihr Bestes.
Als sie zum fünften Mal den Vorstoß unternahm, die Schneiderwerkstatt aufzusuchen, um ihre Festgarderobe zu bezahlen, fand sie das Geschäft wieder geschlossen vor, wie es jedes Mal der Fall gewesen war, wenn sie sich genähert hatte.
Und das, obwohl der Pavillon neben den Schneidern geradezu Hochbetrieb hatte, wie sie feststellte. Zwei Schlangen Linyaari führten dort hinein und heraus.
Die langsamere Warteschlange bestand aus blasshäutigen und silbermähnigen Linyaari wie sie selbst. Diese gingen hinein.
Die andere, herauskommende Kundenschar wurde von farbenprächtigeren und mutmaßlich jüngeren Linyaari gestellt, mit gefleckten, braunen, schwarzen, roten, grauen, goldenen und einer bunten Vielzahl weiterer Körper- und Haarfarben.
Da sie ohnehin nichts Besseres zu tun hatte und diese Leute ausnahmsweise mal nicht in private Gespräche versunken zu sein schienen, beschloss Acorna, sich einfach
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