Acqua Mortale
ein Klavier. Sie hatte keine Kraft zur Widerrede, konnte ihn nicht einmal anspucken. Das Kratzen in ihrem Hals war so stark, dass sie zu ersticken drohte. Die Sauerstoffzufuhr zu ihrem Gehirn war unterbrochen, und das Bild auf ihrer Netzhaut, sein wutverzerrtes Gesicht, sein aufgerissener Rachen, aus dem der Speichel spritzte, wurde nicht mehr weitergeleitet.
57
Lunau raste über die schnurgeraden Straßen der Trockenlegungsgebiete zurück Richtung Ferrara. Man hätte 200 fahren können, wären nicht die vielen Bodenwellen und Absenkungen der Fahrbahn gewesen, die wie Uppercuts in die Stoßdämpfer fuhren. Diebläulich-weißen Xenon-Scheinwerfer tasteten sich an den Schilf- und Binsenhecken entlang, die den Fahrdamm säumten. Es gab weder Leitpfosten noch -planken. Manchmal schreckte das Licht Hasen und Füchse auf, manchmal sah man auch die fluoreszierenden Pupillen einer Katze. Die Ebene war so eben, dass jedes Haus, jeder Baum wie ein überraschendes Ereignis wirkte. Die Monotonie mochte man für deprimierend halten, für Lunau hatte sie etwas Erhabenes.
Lunau fuhr an der Stadtmauer entlang, die wie ein schlafendes Ungetüm in der finsteren Ebene leuchtete, er umrundete Ferrara und steuerte den Deich an. Bei Francolino fuhr er auf die schmale Teerstraße, die sich auf der Deichkrone den Fluss entlangschlängelte. Ein graues Band in der Finsternis, eingerahmt von den Silhouetten der Bäume, Büsche und Gräser. Das Grundstück F 22/c lag nur einen halben Kilometer flussabwärts, wenige Kilometer vor der Stelle, an der Di Natale oder Pirri ihn hatte überfahren wollen. Noch so ein Zufall. Lunau parkte und kletterte in die steile Böschung. Auf dem taunassen Gras glitt er aus, er fiel auf die Flanke und rutschte die zwanzig Meter ins Deichvorland hinab. Auf den Rippen, die Tommaso, der um drei Minuten Ältere der Corelli-Bruder, mit der Eisenstange traktiert hatte.
Lunau blieb die Luft weg. Er richtete sich langsam auf, schöpfte Atem und stapfte dann durch die Pappelpflanzung auf das Wasser zu. Nichts Auffälliges war zu entdecken. Lunau leuchtete ins Gestrüpp, an den schlanken Stämmen der Bäume entlang. Sie standen Spalier auf einer ebenen Sandfläche. Nichts an diesem Grundstück schien anders zu sein als an anderen Uferabschnitten des Po. Der tiefe Motor des Schwimmbaggers dröhnte über den Fluss, zwischen den schlanken hohen Stämmen konnte man ein paar schwache Lichter aus der Schiffsbrücke sehen. Lunau setzte sich in den weichen, feuchten Sand, stellte seine Füße auf diealgigen Granitbrocken, die das Ufer säumten, und versuchte nachzudenken. Was war das Besondere an dieser Stelle?
Der Fluss roch wie überall, nach fauligem Fisch, Abwässern und Erde. Im Mondlicht schimmerte er bleigrau. Das Brummen des Schwimmbaggers war so laut, dass Lunau erst im letzten Moment das Bimmeln der Schafherde wahrnahm. Er war praktisch schon umzingelt, und der stinkende Schäfer setzte sich neben ihn.
»Na, wieder auf Pidrüs-Jagd?«, schrie Lunau und wedelte mit der Hand vor seiner Stirn herum. Der Mann reagierte nicht. Er saß einfach da, schwitzte Alkohol aus und starrte in dieselbe Richtung wie Lunau.
»Kannten Sie Vito Di Natale?«, fragte dieser.
Der Schäfer ließ die Arme in theatralischer Geste kreisen und stieß einen Heullaut aus.
»Er ist tot«, sagte Lunau. »Ermordet.«
Der Schäfer verzog sein Gesicht zu einer wütenden Fratze und zeigte, wie man ein Huhn erwürgt. Na danke, das hätte Lunau auch alleine gekonnt, eine Art Laieninterpretation der Tragödie.
Der Saugmotor des Schwimmbaggers setzte aus, die Drehzahl des Dieselantriebs stieg, und das Gefährt schob sich langsam hundert Meter weiter flussaufwärts, dann setzte es seine Arbeit fort.
Der Schäfer verzog wieder sein Gesicht, schrie etwas, das wie Sabbia , »Sand«, klang und warf den Ufersand in die Luft.
»Haben Sie Di Natale vor einer Woche hier auf dem Deich gesehen? Mit Beppe Pirri?«
Der Schäfer glotzte blöd.
»Wissen Sie, wer Vito umgebracht hat?«
Der Mann fing wieder an, Sand in die Luft zu schmeißen, unter anderem auf Lunaus Laptop-Tasche, in der sich neben dem Computer auch der Digitalrekorder befand. Lunau stand auf, machte eine unwirsche Geste, die man als Abschiedsgruß verstehenkonnte, und bahnte sich dann einen Weg durch das blökende Vieh. Er trat einem Schaf, das sich partout nicht wegschieben ließ, in den Hintern.
Der Schäfer sprang mit erstaunlicher Behändigkeit auf und knuffte Lunau in den
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